Eine Rezension von Irina Hundt

Standardwerk der sozial-kritischen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Louise Otto-Peters: Schloß und Fabrik
Roman.
Erste vollständige Ausgabe des 1846 zensierten Romans.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Johanna Ludwig.
Louiseum 3. Herausgegeben mit freundlicher Unterstützung der Louise Otto-Peters-Gesellschaft e. V. Leipzig, Leipzig 1996, 367 S.

Endlich ist er da, der schwer zugängliche legendäre Roman der legendären Wegbereiterin der deutschen Frauenbewegung, der Initiatorin und Mitbegründerin der ersten Frauenorganisation Allgemeiner Deutscher Frauenverein, Louise Otto-Peters (1819-1895). Die Autorin, die gleichzeitig eine vielseitige und produktive Schriftstellerin, Dichterin, Journalistin und Librettistin war, schrieb ihn in den Jahren 1845/46, in einer Zeit, als die krassen sozialen Gegensätze des frühindustriellen Kapitalismus auch in Deutschland offensichtlich wurden.

Seitdem nimmt der Roman „Schloß und Fabrik“ seinen gerechten Platz in der Geschichte der heterogenen oppositionellen sozial-kritischen Literatur ein. Zusammen mit der Dichtung von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Ferdinand Freiligrath, Georg Herwegh, Karl Beck, Alfred Meissner, der Publizistik von Moses Heß, Karl Grün, Otto Lüning, Hermann Püttmann, Wilhelm Wolff, Friedrich Engels, Georg Weerth, Hermann Semmig, mit den Romanen von Ernst Willkomm, Ehrenreich Eichholz, Theodor Oelckers, den Novellen von Ernst Dronke u. a. markierte er die Entstehung einer neuen literarischen Produktion, die in den Jahren vor dem Ausbruch der europäischen Revolutionen von 1848 als literarische Reflexion auf die zeitgenössischen Verhältnisse, in erster Linie auf die unmenschliche Ausbeutung der arbeitenden Klassen, entstand.

Louise Ottos Roman, sie schrieb ihn vor ihrer Ehe mit dem Revolutionär August Peters, erlitt dasselbe Schicksal wie andere oppositionelle Werke dieser Zeit: Er wurde gleich nach dem Druck verboten, und konnte erst nach einigen Monaten wieder erscheinen, nachdem die Verfasserin die von der Zensur als besonders „gefährlich“ bezeichneten Stellen überarbeitet hatte. Auch in seinem verstümmelten Zustand fand ihr Roman eine begeisterte Aufnahme im Erscheinungsjahr 1846, die Nachahmung von den Kollegen, z. B. von Robert Prutz in seinem Roman Das Engelchen, und Verbreitung unter den Arbeitern viele Jahre danach - 1868 erscheint er in einer Neuauflage und im nächsten Jahr wird er „auf speziellen Wunsch der Arbeiter“ noch einmal als Volksausgabe verlegt. Wenngleich in zahlreichen Biographien von Louise Otto-Peters erwähnt, wurde er vor allem wegen seiner Seltenheit in deutschen Bibliotheken ungenügend in die Forschung einbezogen.

Diesem Desiderat ist mit dieser Edition ein Ende gesetzt. Johanna Ludwig, eine profunde Kennerin des Lebens und des Werkes von Louise Otto-Peters, legte eine neue Ausgabe vor und machte somit den Roman weiteren Kreisen von Interessenten und Wissenschaftlern zugänglich.

Die vorgelegte Edition von Schloß und Fabrik stellt etwas besonderes dar, weil sie einen Blick in die nicht einfache Geschichte des Werkes ermöglicht. Durch Recherchen im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden fand die Herausgeberin eine Zensurakte mit jenen Textstellen aus den schon gedruckten und dann beschlagnahmten Bänden 2 und 3 des Romans, die 1846 der Zensur zum Opfer gefallen waren, während der erste Band die Zensur ohne weiteres passiert hatte. Dieser Fund erlaubte die Rekonstruktion der ersten dreibändigen Ausgabe des Romans (eine verkürzte Fassung erschien zuerst in Kobers Sammlung „Album“). Die Herausgeberin hat die von der Zensur unterdrückten Stellen aufgrund der Akten nicht nur wieder eingefügt, sondern sie auch durch Striche optisch kenntlich gemacht, so daß sich heute leicht erkennen läßt, nach welch obskuren bis lächerlichen Vorstellungen damals die „Gefährlichkeit“ von Literatur beurteilt und welche prophetischen, mit wirklichem Zündstoff beladenen Aussagen der Autorin direkt vor Revolutionsausbruch vom Zensor übersehen wurden. Das Schicksal aller Zensur, nicht nur im Vormärz! Die Geschichte der Verstümmelung des Romans wird durch die Veröffentlichung der Dokumente aus der Zensurakte im Anhang des Buches: „Schriftvorgänge der Zensurakte zu ‚Schloß und Fabrik‘“ (S. 330-346) dokumentiert und liefert zugleich einen aufschlußreichen Beitrag zur deutschen Zensurgeschichte.1)

Was erfahren wir aus diesem Buch? Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte von zwei edlen Freundinnen, Elisabeth und Pauline, die erste ist eine Aristokratin, die zweite kommt aus bürgerlichem Hause. Die Aristokratin liebt zwar auch einen Aristokraten, aber der ist für ihre gräfliche Familie suspekt: Graf Szariny, ein polnischer Flüchtling, dessen Vater beim Aufstand gegen den russischen Zarismus von 1830 umgekommen war, ist ein zerstreuter, schriftstellernder, freiheitsgesinnter Salonlöwe à la Lord Byron, der ein weibliches Herz nach dem anderen verschlingt. Die Liebe ihrer bürgerlichen Freundin ist noch ungewöhnlicher, da sie in einen Arbeiter verliebt ist. Franz Thalheim ist kein normaler Vertreter der arbeitenden Klasse, sondern ein gebildeter Mensch, Schriftsteller sogar, der wegen der Armut seiner Eltern in die Fabrik mußte.

Die Handlung des Romans beginnt in „einer deutschen Residenz zweiter Größe“, in der beide Heldinnen „ein Institut zur Erziehung und Ausbildung junger Mädchen aus den höheren Ständen“ (S. 9) besuchen und unter dem Einfluß ihres Lehrers, des älteren Bruders des schriftstellernden Arbeiters, Gustav alias Johannes Thalheim, zu Wohltäterinnen für die armen Menschen erzogen werden. Nach einigen Verwicklungen, wie sie auch in mehreren anderen, im Geiste der „populären Romantik“ geschriebenen damaligen Romanen zu finden sind, kehren die Institutsfreundinnen in ihr Zuhause zurück, aufs Land, dorthin, wo der geldgierige, reiche Unternehmer, Paulines Vater, den größten Teil des schönen Landguts von Elisabeths adelsstolzem Vater schon abgekauft und darauf eine Wollfabrik, eine Spinnerei und sein großes, aber geschmackloses Haus gebaut hatte. Er verdrängt immer weiter den edlen, aber noch nicht völlig verarmten Grafen Hohenthal, der selbstverständlich auf seinem geschmackvollen Stammschloß sitzt und unter dem Lärm der Dampfmaschinen des unbequemen Nachbarn leidet.

Der sich angekündigende Gegensatz zwischen dem „Schloß“ und der „Fabrik“, der teilweise durch die durch nichts zu erschütternde Freundschaft zwischen Elisabeth und Pauline überwunden wird, rückt allmählich in den Hintergrund, und die Romanhandlung wird getragen vom eigentlichen krassen, unversöhnlichen Gegensatz zwischen den Arbeitern und dem Fabrikanten. Schon bei ihrer Ankunft im Elternhaus begegnet Pauline dieser eindeutige, klare, unmißverständliche, folgenreiche Konflikt:
„Ein paar zerlumpte Frauen, die eine von ihnen ein schreiendes Kind auf dem Arm, saßen auf einem Stein, an dem der Wagen (mit Pauline - I. H.) nahe vorbeikam. Eine Rakete stieg als Zeichen der Ankunft vor dem Turme auf, und die Glocke wurde geläutet.
‚Gar noch Feuerwerk!‘ sagte die eine der Frauen. ‚Machen's denn die Lichter nicht hell genug, unser Elend zu beleuchten?‘
‚Das ist doch wahrer Spott‘, versetzte die andre, ‚läßt sein sündhaft erworbnes Geld lieber in Feuerkugeln aufgehen, als daß er sich unsrer Not erbarmte.‘
‚Laßt's nur gut sein, Else‘, sagte ein zerlumpter Mensch, der hinzutrat, ‚der Feuerstrahl schreit für uns um Rache zum Himmel auf. Und mag sich der Himmel nicht erbarmen, nun zum Teufel auch, wir haben ja Fäuste! Sind schwielig von der Arbeit geworden, werden schon gut dreinschlagen können‘, und er schwang die Arme drohend in der Luft.“ (S. 70)

In diesem Konflikt, der schließlich in einen Aufstand der Arbeiter gegen den Fabrikbesitzer mündet, endet tragisch die Liebe von Pauline und Franz: Beide werden durch das von Paulinens Vater herbeigerufene Militär erschossen. Dem zweiten Liebespaar wird es gelingen, den Widerstand der gräflichen Familie zu überwinden und einen glücklichen Ehebund zu schließen. „An dem schönen Marmordenkmal über Paulinens Grab“ am Schluß des Romans verkünden beide, daß sie mit ihrem Franz nur im Himmel „in Liebe vereint“ sein konnte. (S. 320)

Louise Otto benutzte den typischen Rahmen eines seit den „Epigonen“ von Karl Immermann populären Zeitromans, den mehrere Literaten, darunter auch Georg Weerth mit seinem unbetitelten Roman-Fragment, nachzuahmen versuchten. Sie beschrieben edle Liebes- und Freundschaftsgeschichten mit auf dem Lande lebenden und wirtschaftlich unfähigen Aristokraten als Haupthelden, ungebildeten, geldgierigen Industriellen als typischen Vertretern der modernen kapitalistischen Welt, in ärmlichen Verhältnissen vegetierenden Literaten usw. Dieser Rahmen wurde aber von Louise Otto gesprengt, indem sie nicht nur ein erschütterndes Bild des Elends der von „der Fabrik“ und dem Fabrikanten exploitierten Arbeiter, Arbeiterinnen und Kinder zeichnete (das hatten schon vor ihr Bettina von Arnim in ihrem „Königsbuch“ und einige andere frühsozialistische Autoren meisterhaft getan), sondern dadurch, daß sie den Versuch unternahm, ein breites soziales Panorama der Gesellschaft - eingeschlossen frauen-emanzipatorische Ansätze, die ersten Schritte der Arbeiter zur politischen Organisation, die Diskussionen und Differenzen unter ihnen, ihren Widerstand auch in seiner äußersten Form - in eine literarische Form umzusetzen. In den Roman flossen reichlich die Eindrücke und Lebeserfahrungen der jungen, aber schon ziemlich erfahrenen Schriftstellerin ein, die sich bereits mit Gedichten, Zeitschriftenartikeln und drei Romanen einen Namen gemacht hatte. Mutig zitierte sie aus oppositionellen Werken und verbotenen Publikationen ihrer Kollegen, wie z. B. aus den „Rheinischen Jahrbüchern zur gesellschaftlichen Reform“ von Hermann Püttmann oder aus Ferdinand Freiligraths Gedicht „Leipzigs Todten“, entlarvte die ungesetzlichen Polizeimethoden, die von solchen Regierungsagenten wie dem Polizeirat Schuhmacher praktiziert wurden, verspottete die Verschwörungspläne der Jesuiten.

Wie schon einige Zeitgenossen bemerkten, ist der Roman „dichterisch vielleicht nicht vollendet“ (S. 352). In der künstlerischen Darstellung bleibt tatsächlich vieles zu wünschen übrig. Die Teile sind so verschieden, daß der Eindruck entsteht, Louise Otto habe teilweise die frühere Fassung eines Romans verwendet, den sie eventuell nicht vollendete bzw. mit dem sie nicht zufrieden war und daher liegenließ, bis sie im Herbst 1845 unter dem Eindruck der im August in Leipzig blutig niedergeschlagenen Demonstration der Arbeiter auf die Idee kam, was daraus gemacht werden könnte. Die plötzliche Änderung des Vornamens des Lehrers Thalheim, eines der Haupthelden des ersten Bandes, im zweiten Band, eine gewisse Unlogik der Handlung, die Unglaubhaftigkeit und Verschwommenheit vieler Helden, sogar solcher wie z. B. des Grafen Szariny, der als zweiter Hauptheld des ersten Bandes die Idee der Sympathie für den Befreiungskampf der Polen trägt (deswegen könnte man vermuten, daß dieser Teil schon etwa in den 30er Jahren entstand), der dann in den weiteren Teilen völlig „verblaßt“, auch viele Merkmale einer unreifen, noch mädchenhaften Nachahmung des „romantischen“ Sprachausdrucks von damals usw., alles das erschwert dem heutigen Leser den Zugang zum Werk.

Jedoch die Sensibilität der Autorin gegen soziale Ungerechtigkeit, ihre klare politische Aussage der Solidarität mit dem Proletariat, ihr scharfer Protest gegen die ausbeuterische Bereicherung der Kapitalisten bleiben unverkennbar. Die ausführlichen Anmerkungen und ein fundiertes Nachwort der Herausgeberin, das die Entstehungsgeschichte des Romans, seine zeitgenössische und die spätere literaturwissenschaftliche Rezeption schildert, ermöglichen dem aufmerksamen Leser, seine Aussagen sowie seine Wirkung besser zu verstehen. Für Interessenten und Historiker auf jeden Fall eine lohnende Lektüre.


1 Die Dokumente dieser Akte sowie andere authentische Zeugnissen aus der Presse, Erinnerungen usw. wurden außerdem in der separaten Broschüre „Mit den Muth'gen will ich's halten“. Zur 150jährigen aufregenden Geschichte des Romans „Schloß und Fabrik“ von Louise Otto-Peters. Mit der 1994 wiederaufgefundenen vollständigen Zensurakte. Hrsg. im Auftrag der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft. Sax-Verlag, Beucha 1996, herausgeben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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