Eine Rezension von Rudolf Kirchner

Erinnerungen an einen Freund

Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende
Erinnerungen.
Dietrich zu Klampen, Lüneburg 1994, 330 S.

Wer diesen Band aus der Werkausgabe in Einzelbänden des Schriftstellers Soma Morgenstern in die Hand nimmt, sollte unbedingt mit dem Nachwort von Ingolf Schulte beginnen. Der Herausgeber der auf elf Bände veranschlagten Edition zeichnet hier ein lebendiges Bild des Lebens und Schaffens eines in Deutschland wohl tatsächlich vergessenen Schriftstellers. Soma Morgenstern, geboren am 3. Mai 1890 in einem kleinen Ort in Ostgalizien und gestorben am 17. April 1976 in New York, lernte in seinem bewegten Leben solche Zentren des geistigen Lebens Europas kennen wie Wien, Berlin und Paris. Zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis zählten Alban Berg und Otto Klemperer, Robert Musil und Hanns Eisler, Anton Webern und Ernst Bloch, Hermann Broch, Stefan Zweig, Elias Canetti und eben Joseph Roth. Sein Schaffen umfaßte autobiographische Arbeiten wie die vorliegende, aber auch über Alban Berg, über seine Jugendzeit in Galizien, über seine Flucht durch Frankreich zwischen 1939 und 1941 sowie eine Reihe Romane, Kurzprosa und Zeugnisse seiner journalistischen Tätigkeit in Berlin und Wien, vor allem für die „Frankfurter Zeitung“. Seine Trilogie Funken im Abgrund (I. Der Sohn des verlorenen Sohnes, II. Idyll im Exil, III. Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes) nennt der Herausgeber Schulte „ein unersetzliches Stück deutsch-jüdischer Epik, ... ein authentisches Zeugnis der zerstörten Welt osteuropäischen Judentums“ (305). Als eine Art Epilog zu der Romantrilogie erschien 1955 in den USA das Buch Die Blutsäule, in dem Morgenstern sich mit der Ermordung ostgalizischer Juden durch die SS auseinandersetzt.

Dieses Wissen um Leben und Werk Soma Morgensterns erscheint mir um so bedeutsamer, als viele Leser seine Erinnerungen zuerst und vor allem aus Interesse an Joseph Roth lesen werden. Daß hier nicht nur ein langjähriger Freund, sondern ein gleichberechtigter Autor spricht, der nicht nur ein ähnlich kompliziertes Leben führen mußte, sondern die gleichen Schaffensprobleme und Krisen durchlebte, macht das Erinnerungsbuch besonders lebendig und authentisch. Gerade die letzten Lebensjahre Joseph Roths mit dem ausufernden Alkoholismus werden so ehrlich und eindrucksvoll in all ihrer Widersprüchlichkeit beschrieben.

Die Erinnerungen wurden auf der Grundlage eines Typoskripts aus dem Nachlaß Morgensterns gestaltet. Der Herausgeber hat einige Abschnitte aus dem weiteren Nachlaß, die inhaltlich und zeitlich in dieses Manuskript gehören, hinzugefügt, worauf er in seiner editorischen Notiz hinweist. So umfassen die Erinnerungen etwa dreißig Jahre und reichen von der ersten Bekanntschaft mit Roth über verschiedene Stationen des Lebens, gemeinsame Erlebnisse und Krisen der Freundschaft bis zum Tod Joseph Roths am 27. Mai 1939 in Paris.

Roth stammte wie Morgenstern aus Galizien. Nach ersten Begegnungen der beiden in Lemberg und Wien entstand langsam eine feste Freundschaft. In den zwanziger Jahren waren beide als Journalisten tätig und lebten in Berlin bzw. Wien. „Joseph Roth war sehr gern ein Journalist. Es gibt, und es gab schon immer, Schriftsteller, die sich ihrer journalistischen Vergangenheit schämen. Nicht so Roth. Er war stolz darauf.“ (S. 26)

Nach einigen kleinen, beinahe anekdotenhaften Abschnitten über Roth und gemeinsame Erlebnisse entwickeln sich die Erinnerungen zu einem intensiven Lebensbericht über die letzten Jahre Roths. Als Morgenstern Roth 1937 nach längerer Pause wieder traf, notierte er erschüttert: „Er war damals weniger als dreiundvierzig Jahre alt, und - mein Herz vergibt es mir nicht, daß ich es so aufschreibe: Er sah aus wie ein sechzigjähriger Säufer.“ (S. 142) In diesen letzten Jahren lebten beide in Paris, sahen sich täglich, so daß man sagen kann, daß hier ein authentischer Bericht über diese Zeit vorliegt.

Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Darstellungsweise Morgensterns. Er erzählt die Geschichte dieser Monate und Jahre, wie ein guter Schriftsteller eben einen guten Stoff präsentiert: Die Handlung entwickelt sich, Personen - zumeist knapp charakterisiert - tauchen auf und verschwinden, die Dialoge vermitteln den Eindruck, daß die Gespräche so original stattgefunden haben müssen. Hinzu kommen die Rückbesinnungen auf frühere Zeiten und Erlebnisse, die Vorgriffe auf späteres Geschehen und die eingestreuten treffenden Charakterisierungen zu Roth als Persönlichkeit oder auch nur zu einzelnen Zügen des Schriftstellers.

Die Erinnerungen Morgensterns wirken so schönenden Legendenbildungen über die letzten Lebensjahre Joseph Roths ebenso entgegen wie böswilligen Entstellungen. Der Leser, der hier etwas über den Schriftsteller Roth erfahren wollte, legt das Buch befriedigt aus der Hand. Mehr noch: Er ist neugierig geworden auf den Schriftsteller Soma Morgenstern.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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