Eine Rezension von Horst Wagner

Ein Jahrhundertgenie

Armin Hermann: Einstein
Der Weltweise und sein Jahrhundert. Eine Biographie
R. Piper, München 1995, 336 S.

„Soll einem solchen auf Erkennen und Begreifen gerichteten Leben überhaupt eine Biographie gewidmet werden?“ wehrte sich Einstein einst gegen ein entsprechendes Vorhaben. „Im Leben eines introvertierten Gelehrten“, so begründete er seinen Einwand, sei „das äußere Leben inklusive der persönlichen Beziehungen zu den Mitmenschen nur von sekundärer Bedeutung.“ (S. 102) Inzwischen sind Dutzende Biographien über den wohl bedeutendsten Physiker unseres Jahrhunderts geschrieben worden. Der Wert der neuen aus der Feder Armin Hermanns, eines in Kanada geborenen Berufskollegen Einsteins, der seit 1968 Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Stuttgart lehrt, besteht vor allem darin, Einstein in diesem Punkte gründlich widerlegt zu haben. Gerade weil Hermann innere geistige Entwicklung und äußeres Leben, wissenschaftliches Denken und persönliche Beziehungen des großen Gelehrten im Wechselspiel sieht und sie hineinstellt in die Geschichte der Wissenschaften, der Kultur und der Politik, ist ihm ein Lebens- und Zeitgemälde von hohem Wert gelungen.

Der Einstieg in das Buch überrascht. „Ich bin ein Berliner“, hat Hermann das erste Kapitel überschrieben, dieses Bekenntnis Einstein gleichsam in den Mund legend. Dabei weiß man doch - oder erfährt es detailreich auf den folgenden Seiten - daß Einstein in Ulm geboren wurde, in München aufgewachsen ist, seinen ersten wissenschaftlichen Lorbeer in Bern und Zürich erntete, deutscher und Schweizer Staatsbürger zugleich und seit 1940 US-Amerikaner war, sich aber vor allem als jüdischer Weltbürger fühlte, Jerusalem besonders liebte und einmal sogar israelischer Staatspräsident werden sollte. Auch wenn einem Hermanns Bemerkung, Einstein habe die „schnoddrige Art der Berliner“ gefallen, er habe wie diese „sich und seine Probleme nie gar zu ernst genommen“ (S. 7), als Begründung für die Überschrift nicht ausreicht, versteht man doch, warum die Biographie mit der Ankunft Einsteins in der Reichshauptstadt am 29. März 1914 beginnt: Obwohl er schon neun Jahre zuvor mit seiner Speziellen Relativitätstheorie und der Formel E = mc2 das Tor zu einem neuen Zeitalter der Physik aufgestoßen hatte, wurde ihm jedoch erst mit seiner Berufung an die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin die Wirkungs- und Einflußmöglichkeit zuteil, die er sich erträumt hatte. Anschaulich belegt Hermann, wie Einsteins Vorbehalte gegen die deutsche Hauptstadt (weil er das von hier ausgehende „nationale Kraftmeiertum des deutschen Kaisers“ haßte) verdrängt wurden, weil Berlin auch eine „andere preußische Tradition“ pflegte und sich zunehmend als Zentrum und Förderer der Wissenschaften erwies.

Immer wieder, und das macht einen großen Reiz des Buches aus,  kann Hermann mit originellen Stellen aus Einsteins umfangreichem Briefwechsel aufwarten. „Die Herren Berliner spekulieren mit mir wie mit einem prämierten Leghuhn“, schrieb Einstein Schweizer Freunden. „Aber ich weiß nicht, ob ich noch große Eier legen kann.“ (S. 9) Bescheidenheit oder kokettierendes Understatement? Die Biographie belegt, wie sich in Einsteins Wesen beides verband. Der „großen Eier“ gab es bekanntlich noch viele. Schon anderthalb Jahre nach seiner Ankunft in Berlin trug Einstein auf einer Akademiesitzung seine Allgemeine Relativitätstheorie vor. Armin Hermann hat zu Recht darauf verzichtet, den zahlreichen ausführlichen populärwissenschaftlichen Darstellungen der Relativitätstheorie in seinem Buch eine weitere hinzuzufügen. Dem Charakter der Biographie entspricht es sicher besser, wenn man in ihr - neben der Würdigung durch andere Gelehrte - humorvolle Bemerkungen von Einstein selbst dazu findet. Bei einer Ankunft im Hafen von New York erklärte er den Journalisten: „Früher hat man geglaubt, wenn alle Dinge aus der Welt verschwinden, so bleiben nur noch Raum und Zeit übrig. Nach der Relativitätstheorie verschwinden aber Zeit und Raum mit den Dingen.“ (S. 262)

Einsteins „Privatleben“, vor allem sein herzliches Verhältnis zur Musik und sein problematischeres zu den Frauen, ist Gegenstand vieler Anekdoten. Hermann widmet sich diesem Thema seriös, faktenreich und - was die Beziehungen Einsteins zu seinen beiden Ehefrauen Mileva und Elsa betrifft - ohne jede Schonung. „Gegenüber seinen beiden Ehefrauen hatte Einstein, was die menschlichen Beziehungen betrifft, versagt“ (S. 507), wobei deutlich wird, daß das nicht so sehr an kurzlebigen Beziehungen des wegen seiner Berühmtheit Umschwärmten zu anderen Frauen, sondern an Einsteins mangelnder Fähigkeit lag, dauerhafte geistige Bande zu anderen Menschen außerhalb seiner wissenschaftlichen Interessen zu knüpfen. Dies sei, so Hermann, auch Ursache für eine mit wachsendem Alter zunehmende Vereinsamung Einsteins gewesen, die aber „in merkwürdiger Weise mit der starken sozialen Verantwortung“ kontrastierte, „die er fühlte und die sein Verhalten bestimmte“. (S. 509)

Wie ein roter Faden durchzieht die Biographie Einsteins Bekenntnis zum Judentum und sein damit eng zusammenhängendes politisches Engagement im Sinne eines streitbaren Pazifismus, gegen Rassendünkel und Säbelrasselei. „Die Beziehung zum jüdischen Volk“ sei seine „stärkste menschliche Bindung“. Er fühle deshalb „Trauer und Beschämung, daß er nicht zusagen könne“. So Einstein, als ihm 1952 nach dem Tode Weizmanns die Präsidentschaft Israels angetragen wurde. (S. 484-486) Wobei die Absage, wie in der Biographie detailliert erörtert wird, einer realistischen Selbsteinschätzung entsprang. „Mein Leben lang mit objektiven Dingen beschäftigt“, schrieb Einstein, „habe ich weder die natürliche Fähigkeit noch die Erfahrung im richtigen Verhalten zu Menschen in der Ausübung offizieller Funktionen.“ (S. 468) Ausführlich schildert Hermann, wie der aus einem jüdischen Elternhaus Stammende schon in der Schule und als Student unter dem Antisemitismus seiner Umgebung leiden mußte, wie er sich später der Angriffe solcher „Wissenschaftskollegen“ erwehren mußte, die im Sinne Hitlers die Relativitätstheorie als „unwissenschaftliches Machwerk“ hinstellten, weil sie von einem Juden stammt. Wir erleben mit, wie sich Einstein 1914 im „Bund Neues Vaterland“ gegen den Krieg einsetzte, mithalf, pazifistische Literatur für Gesinnungsgenossen ins Gefängnis zu schmuggeln. (S. 213) Wir lesen davon, wie Einstein schon frühzeitig die von den Nazis ausgehende Gefahr eines zweiten Weltkrieges erkannte, wie er sich mit seiner Ende 1930 in New York gehaltenen „Rede über Kriegsdienstverweigerung“ zu einer „Heldenfigur in der internationalen Friedensbewegung“ machte (S. 367) und in welchen inneren Konflikt er geriet, als er vom Abwurf der amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erfuhr. War er es doch, der den amerikanischen Präsidenten Roosevelt am 2. August 1939 in einem Brief aufgefordert hatte, „die Forschungen zur technischen Nutzung der Kernenergie im großen Stil anlaufen zu lassen, um nicht eines Tages von den Deutschen unliebsam überrascht zu werden“. (S. 455) „Es blieb mir nichts anderes übrig“, zitiert Hermann Einstein in einem späteren Gespräch mit einem japanischen Journalisten, „obwohl ich stets ein überzeugter Pazifist gewesen bin. Töten im Krieg ist nach meiner Auffassung um nichts besser als gewöhnlicher Mord.“ (S. 468)

Nicht ganz gerecht scheint mir Hermann an anderer Stelle zu sein, wenn er Einstein „eine groteske Fehleinschätzung der deutschen Politik“ nach dem Zweiten Weltkrieg vorwirft, weil dieser z. B. 1952 in einem Brief an einen württembergischen Studienrat geschrieben hatte: „Die Regierung Ihres Landes strebt in erster Linie nach Macht und zwar auf militaristischer Basis, gestärkt durch den amerikanisch-russischen Antagonismus ...“ (S. 480) Zwar möchte man einräumen, daß Einsteins Haltung, den Holocaust und andere Verbrechen der Nazizeit allen Deutschen anzulasten (S. 475-477), zu undifferenziert war. Andererseits war seine Sicht auf den kalten Krieg doch sehr realistisch, und die Nachricht zum Beispiel, daß ein Mitautor der Nürnberger Rassengesetze Adenauers enger Mitarbeiter wurde, dürfte ihm genausowenig Freude bereitet haben wie die von der Wiederverwendung von Militärs, die ihre Sporen unter Hitler verdienten.

Einwände wie dieser können am Gesamtwert des Buches, das sich auch durch ein sehr detailliertes Quellenverzeichnis, eine vergleichende Zeittafel sowie ein umfangreiches Personen- und Sachregister auszeichnet, natürlich nichts ändern. Große Sachkenntnis des Autors, der sich seit 30 Jahren mit diesem Thema beschäftigt hat, und sein Erzähltalent haben eine Biographie entstehen lassen, die - wie es im Klappentext des Verlages heißt - „alle Seiten des Jahrhundertgenies, die sichtbaren und die verschwiegenen, lebendig werden läßt“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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