Eine Rezension von Christel Berger

Das Leben des Komponisten modern komponiert

Peter Härtling: Schumanns Schatten
Variationen über mehrere Personen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996, 384 S.

Peter Härtling hat über Franz Schubert und Friedrich Hölderlin, Wilhelm Friedrich Waiblinger, Eduard Mörike und Nikolaus Lenau jeweils beeindruckende Romane geschrieben, und - so würden Kleingeister urteilen - nun dürfte er sich auskennen mit diesen hochsensiblen kreativen und eigensinnigen Brüdern - künstlerischen Repräsentanten des 19. Jahrhunderts, die an sich und den Verhältnissen litten, zumeist im Wahnsinn endeten, aber heute zu den Großen und Verehrten gehören. Der Vergleich von Härtlings Künstlerbüchern beweist, daß er für jeden von ihnen einen ganz eigenen Ansatz und eine besondere Idee für Struktur und Konzept brauchte. Das solide Wissen um historische Zusammenhänge und Hintergründe sowie das Einfühlungsvermögen in den Kollegen aus vergangenen Zeiten tun es nicht.

Auch im Falle seines neuesten Buches, Schumanns Schatten, zeigt Peter Härtling, daß er sich keineswegs auf Routine verläßt. Das Buch hat den Untertitel „Variationen über mehrere Personen“, eine davon ist der Pfleger Tobias Klingelfeld, mit dem der Roman unter dem Datum des 4. 3. 1854 beginnt. Klingelfeld hat sich um den neu in der Heilanstalt Endenich eingelieferten Musikdirektor Robert Schumann zu kümmern. Er wird mit ihm in einem Zimmer wohnen. Schon am ersten Tag fällt der Wechsel heller Momente mit tiefem geistigem Weggetretensein bei Schumann auf. Das nächste Kapitel ist mit „Kinderszenen, (Schnell und spielend)“ überschrieben und handelt von der Kindheit Roberts - in der Buchhandlung des Vaters in Zwickau. Der Junge findet in diesem Milieu zeitig Freude an Büchern und am Klavierspielen. Eine sorgfältige und liebevolle Erziehung - so wird Schumann später diese Zeit charakterisieren, und Peter Härtling legt Wert darauf, dies so auszumalen, daß die Harmonie jener Jahre deutlich wird, aber auch die Schatten nicht verschwiegen werden: die Rastlosigkeit des Vaters, die Krankheit und der Selbstmord der älteren Schwester, das frühzeitige Rollenspiel, das Robert als Überlebensstrategie erlernt. Das folgende Kapitel spielt wieder in Endenich. Schumann ist nun bereits fünfundfünfzig Tage dort. Diese Struktur ist wesentlich für den Roman. (Des wievielten Robert-Schumann-Romans eigentlich? Sein Leben hat schon für die verschiedensten Interpretationen herhalten müssen: Natürlich die der großen romantischen Liebe zu Clara Wieck, die sich gegen den mit allen Mitteln diese Verbindung bekämpfenden Lehrer und Vater Wieck durchzusetzen hatte. Aber auch neuerdings: Schumann, der Macho, der die begabte Clara in die Küche und Kinderstube verbannte.)

Peter Härtling ist in seiner Deutung wunderbar verhalten. Er überläßt dem Leser, sich sein Bild aus den verschiedenen biographischen Fakten zu machen. Daß jedes zweite Kapitel zur Zeit von Schumanns Krankheit spielt, ist eine gewagte Entscheidung. Den hilflosen, seines Verhaltens nur teilweise mächtigen oder bewußten Schumann detailliert über die Beobachtungen Klingelfelds zu beschreiben, setzt neue Akzente: Ein kranker Mann, dessen Pflege Kraft und Nerven kostet. Und dennoch wird sich Klingelfeld selbst angesichts des Verwirrten dessen besonderer Schatten bewußt. Dieser Mann hat etwas Besonderes ... Härtling ist dabei nicht auf Dämonisierung aus. Mitmenschlichkeit selbst unter diesen Bedingungen. Melancholie angesichts eines Menschenschicksals. Wie Peter Härtling bereits in der Kindheit Widersprüchliches andeutet und alles tut, um ein glattes - reines - Bild dieses Romantikers zu vermeiden, stellt er auch auf dem weiteren Weg Schumanns Leistung und Versagen, Größe und Kleinlichkeit nebeneinander. So erscheint Schumann bei Härtling sehr genau als das Kind seiner Zeit und seines Milieus, wie auch der alte Wieck oder Richard Wagner. Nur Clara hat etwas von einer Heiligen ...

Härtling beschreibt das Leben eines romantischen Komponisten, aber er komponiert es in der Art von heute. Keine Vollendung am Schluß, kein klassischer Aufbau. Eher Collagen: Die Endenich-Kapitel beruhen auf der Kenntnis des ärztlichen Tagebuchs von Doktor Richartz, der Schumann in den letzten Jahren behandelte. Die Kapitel, die das Leben in der Zeit vor der Anstalt beschreiben, sind mit Tempi markiert, und so hat der Roman durchaus etwas von einer modernen Symphonie: Da lösen sich die Sätze nicht ineinander auf, da wird Melodisches jäh unterbrochen. Schnelle Rhythmen folgen getragenen Tönen, wenig scheint zusammenzupassen und gehört doch zu einem Ganzen, das das Leben eines Großen, der nicht lebenslang nur „groß“ war, ohne Beschönigung oder Harmonisierung wiedergibt. Es ist ein Geheimnis von Peter Härtling, wie er es fertigbringt, Literatur und Musik derart zu vermählen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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