Eine Rezension von Walter Unze

Ich war immer ein Realist und kein Utopist

Ignatz Bubis: „Damit bin ich noch längst nicht fertig“
Die Autobiographie.
Campus Verlag, Frankfurt/M. 1996, 292 S.

Erinnerungsbücher, Memoiren und Autobiographien überschwemmen in den letzten Jahren den Buchmarkt. Nicht immer sind die Erinnerungen es wert, für andere aufgeschrieben zu werden; längst nicht alle Autobiographien widerspiegeln ein erzählenswertes Leben. Die vorliegende Arbeit gehört nicht zu solchen überflüssigen Büchern. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, hat mit Peter Sichrovsky sein Leben aufgeschrieben. Und die Lektüre dieser Autobiographie ist ein Gewinn. Wenn man bedenkt, daß Bubis erst seit September 1992 an der Spitze des Zentralrats steht und vorher kaum öffentlichkeitswirksam in ganz Deutschland war, dann ist dieser Aufstieg im Ansehen schon eine Erklärung wert. Sicher liegt das an dem Amt, das er ausfüllt. Doch das allein kann es nicht sein, denn der langjährige Zentralratsvorsitzende Werner Nachmann erlangte längst nicht eine solche Popularität. Es hat etwas mit der Persönlichkeit von Bubis zu tun, daß er so bald zu einer Art moralischer Instanz geworden ist: Seine sachliche Argumentation im Disput, seine Kompromißfähigkeit in der Politik, seine Unnachgiebigkeit, wenn es um die Opfer des Holocaust geht, seine kämpferische Haltung in der Auseinandersetzung mit allen Formen von Unterdrückung, Fremden- und Rassenhaß. Diese Eigenschaften sind ganz offensichtlich das Ergebnis eines Lebens, das bestimmt und geprägt wurde durch die eigenen Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus und durch die bewußte Auseinandersetzung mit der entstehenden und sich formenden Demokratie im Nachkriegsdeutschland.

Bubis hat nicht den Ehrgeiz, seiner Autobiographie belletristische Züge zu verleihen. Er erzählt einfach seinen Lebenslauf, den Ablauf seines Lebens von der Geburt bis heute, in der richtigen Reihenfolge, ohne Ausschmückungen, ohne zeitliche Vor- oder Rückgriffe und ohne lange Einschübe zu allgemeinen Problemen. Wenn er in der Erzählung über die sechziger oder achtziger Jahre von seinen Erinnerungen an die Lagerzeit spricht, dann sind das genau jene Erinnerungen, die ihm zu dieser Zeit und aus irgendeinem aktuellen Anlaß kamen. Wenn er über die Juden in Deutschland spricht, dann wird das keine sich verselbständigende Abhandlung, sondern die Informationen werden dort plaziert, wo er sie für sich aktivieren mußte. Und wenn er seine Positionen zu Grundfragen der Zeit erläutert, dann sind sie stets mit bestimmten Ereignissen und konkreten Erfahrungen verbunden, über die er den Leser ausführlich informiert.

Es gibt nur ein Problem, mit dem der Autor über alle Kapitel seines Buches ringt, ohne zu einem Schluß zu kommen: Wie wird man als Überlebender des Holocaust mit seiner ganz persönlichen Geschichte fertig. Diese Frage taucht früh auf, wird unter verschiedenen Gesichtspunkten neu bedacht - zum Beispiel im Verhältnis zu Deutschland - und auch immer wieder verdrängt, wobei dieses Verdrängen zu einer Art „überlebensnotwendigem Selbstschutz“ (S. 278) geworden war. Erst nach seinem Besuch in Treblinka 1989 war Bubis überhaupt in der Lage, über seine Vergangenheit zu sprechen und sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Schließlich berichtet er ganz am Ende des Buches über eine Reise nach Brasilien, wo er Verwandte in einer aktiven großen jüdischen Gemeinde wiederfand, und resümiert nachdenklich: „... ich gehe heute mit meiner Vergangenheit anders um, als ich es über Jahrzehnte hinweg getan habe. Ich hatte plötzlich die Vorstellung, daß alles anders hätte verlaufen können ...“ (S. 284)

Man muß dem Autor dankbar sein, daß er sein Leben nicht von einer „höheren Warte“ aus vorträgt, als eine Art Beispiel für größere geschichtliche Geschehnisse, auch nicht als vordergründige Mahnung oder moralische Belehrung. Er erzählt einfach das, was wirklich war; und er erzählt es so, wie es war. Fast ist es ein Plauderton, doch gerade der zwingt zum „Zuhören“. Schnell entdeckt der Leser die Ehrlichkeit des Autors: Er macht aus sich keinen Helden, er berichtet gleichermaßen offen über seine Erfolge und Niederlagen, über seine Geschäfte und seine Ämter, über seine Freunde und seine Gegner.

Die Autobiographie enthält 19 Kapitel, von denen die ersten drei die Zeit zwischen Bubis` Geburt - am 12. Januar 1927 in Breslau - und seiner Befreiung aus dem Lager in Czestochowa - am 16. Januar 1945 - behandeln und ein Kapitel den „wilden Jahren“ der unmittelbaren Nachkriegszeit gewidmet ist, in denen Bubis zwischen Berlin und Dresden pendelte. Ausführlich wird dann über die Entwicklung zum Kaufmann, Immobilienhändler und erfolgreichen Unternehmer berichtet und auch darüber, wie er in Frankfurt am Main zum Häuser-Spekulanten gestempelt wurde. Vom Kapitel 8 (Jüdische Normalität) an setzt dann die Entwicklung vom erfolgreichen Unternehmer zum engagierten Politiker ein: zuerst im Rahmen der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, dann im Zentralrat. Auch parteipolitisch wurde Bubis aktiv und trat in die FDP ein. Der Kampf gegen jede Art von Antisemitismus - ob von rechts oder links - und Rechtsextremismus wurde ein wichtiges Feld seiner Tätigkeit. Davon berichten vor allem die Kapitel „Der Fassbinder-Konflikt“, „50 Jahre ,Reichskristallnacht`“ und „Geistige Brandstifter“. Die deutsche Einheit brachte neue Aufgaben, aber auch neue Konflikte. „Die alte, trotz aller Aufregungen doch eher behagliche und in sich ruhende Bundesrepublik ist passé - und die neue, größer gewordene hat noch nicht zu sich gefunden“ (S. 191), schreibt Bubis und weist auf solche Geschehnisse wie die Rostocker Angriffe auf vietnamesische Unterkünfte und den ersten Brandanschlag auf eine Synagoge nach 1945 - am 25. März 1994 in Lübeck - hin.

Ignatz Bubis wird noch einige Jahre, so kündigt er es an, engagiert für die Interessen der knapp 60 000 Juden in Deutschland tätig sein. Und er wird sich weiterhin für die Stabilisierung und Entwicklung der Demokratie in Deutschland und darüber hinaus einsetzen. „Ich war immer ein Realist und kein Utopist. Meine Meinung bilde ich mir nach den politischen Realitäten. Wenn diese sich ändern, verändert sich auch meine Einstellung zu den prinzipiellen Fragen der Demokratie heute. Das vereinte Europa ist die Hoffnung der Zukunft, aber die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien haben uns gezeigt, wie zerrissen das politische Denken der Europäer trotz aller Fortschritte immer noch ist. Die Europäer müssen noch einen weiten Weg gehen, bevor Menschen wie ich sich einfach zurücklehnen und still sein können.“ (S. 285)


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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