Eine Rezension von Birgit Pietsch

Chronist des Zerfalls

Georgi Schachnasarow: Preis der Freiheit
Eine Bilanz von Gorbatschows Berater.
Bouvier Verlag, Bonn 1996, 328 S.

Und die Erde war gespalten und verfeindet. Denn „kaum hatten die Kräfte, die sich zur Einheit bekennen, für eine Zeitlang die Oberhand gewonnen, schon holten die trennenden Kräfte zum Gegenschlag aus“. Doch die Zeit war gekommen, und der „heilige Stuhl“ war verwaist. Da erschien ein Mann in ihrer Mitte, und er „lächelte stets, sein Gesicht strahlte Intelligenz aus“. Nur er konnte imstande sein, „das Schlafreich“ zu wecken und dem morschen Lande neue Energien einzuhauchen. Jetzt konnten ihn alle sehen: „Das Muttermal an der Stirn wirkte als beeindruckendes Zeichen der Erwähltheit.“

Wie unschwer zu erraten, ist die Rede von Michail Gorbatschow, dem ersten und zugleich letzten Präsidenten der Sowjetunion. Georgi Schachnasarow, der hier diese recht mystischen Worte wählte, war einer seiner Berater und legt mit diesem Buch seine Erinnerungen vor. 1964 begann er seine Arbeit als Berater für das ZK der KPdSU. Wer so lange in den Korridoren der Macht zu Hause war, dessen Eindrücke müßten Aufschluß über Mechanismen und Rituale der Herrschaft geben. Da gibt es viele interessante Beobachtungen. Etwa, wie der Parteiapparat die Menschen verändert: „Denkende, nicht untalentierte, ja sogar Menschen mit herausragenden Eigenschaften büßten mit der Zeit ihr ‚Ich‘ ein. Zu gehorsamen, verläßlichen Rädchen des Systems wurden nicht nur Referenten und Instrukteure, sondern auch die Sekretäre des ZK, die Mitglieder des Politbüros und in vieler Hinsicht auch der Allerhöchste selbst, der allmächtige Generalsekretär. Er war ebenfalls ein Sklave des Systems.“ Das mutet schon recht schizophren an. Ebenso, wenn Schachnasarow beschreibt, wie geräuschlos sich alle durch die ZK-Korridore bewegten, als wollten sie zeigen: „Ich achte die Obrigkeit und bin bereit, den Weisungen selbstlos zu folgen.“ Selbst solche Persönlichkeiten wie der frühere Generalsekretär Andropow bildeten da keine Ausnahme. Schachnasarow weiß hier eine bezeichnende Episode zu schildern. Während eines Gesprächs mit Andropow - zu der Zeit ZK-Sekretär - über das russische Theaterleben meldet sich telefonisch Chruschtschow. „Buchstäblich vor meinen Augen verwandelte sich dieser lebhafte, markante, interessante Mann in einen Soldaten, der bereit ist, jeden Befehl seines Kommandeurs auszuführen“, beschreibt der Autor die erstaunliche Veränderung Andropows.

Doch bleibt Schachnasarow uns hier einiges schuldig. Es sei denn, man reduziert das Funktionieren eines Systems auf psychologische Aspekte.

Den deutschen Leser wird besonders das Kapitel zum Ende der DDR interessieren, welches unter der schönen Überschrift „Die herausgebrochene Perle“ steht. Schachnasarow schätzt ein, daß die DDR am stärksten vom Willen Moskaus abhing. Obwohl Erich Honecker, angesichts des alten und kranken Breschnews, anfing unabhängiger zu agieren. Der Autor kommt dabei zu der überraschenden Feststellung, „daß niemand, von Bundeskanzler Kohl abgesehen, einen so großen Beitrag zur deutschen Einheit geleistet hat wie der SED-Generalsekretär Erich Honecker“. Die sowjetischen Botschafter und Deutschlandexperten in Moskau hätten Honecker bei jeder passenden Gelegenheit vorgeworfen, daß die Beziehungen zur BRD jedes vernünftige Maß überschritten. Das deckt sich mit den Erinnerungen von Valentin Falin, der sich über den „Nationalismus“ des SED-Chefs beschwerte und schon früh orakelte: „Die DDR mit Honecker an der Spitze wird uns als Bundesgenosse verlorengehen.“ Auch Schachnasarow sieht in der damaligen Annäherung zwischen Bonn und Ost-Berlin, lange vor dem Fall der Mauer, die erste Etappe zu Deutschlands Vereinigung. Die SPD-Architekten der neuen Ostpolitik werden das erfreut zur Kenntnis nehmen.

Der Autor war dabei, als Gorbatschow das letzte Mal mit Honecker zusammentraf und ebenso bei dem Gespräch mit dem SED-Politbüro. Er läßt das Streben der sowjetischen Führung nach einem einigen Deutschland ohne NATO-Mitgliedschaft Revue passieren. Gleichzeitig wird er zum Chronisten des Zerfalls von Warschauer Vertrag und der Sowjetunion.

Darüber hinaus bilanziert Schachnasarow in seinem Buch die Amtszeit von Gorbatschow, beschreibt die Etappen der Perestroika, die Rivalität zwischen Jelzin und Gorbatschow und schließlich den Absturz des im Ausland hochgeachteten sowjetischen Staatsführers.

Denn Zeiten ändern sich. In dem „Zeichen der Erwähltheit“ sahen viele nur noch ein Kainsmal. Getreue verlassen und verdammen den Messias, dem sie gestern noch folgten. Er „konnte schlicht und einfach nicht wahrhaben, daß sich das Glück dieses Mal von ihm abwendete“. Denn, „seine natürliche Sorglosigkeit und der unerschütterliche Glaube an seinen guten Stern haben ihm einen bösen Streich gespielt“. So kam es, wie es kommen mußte: „Sie alle sind grausam und erbarmungslos ... Und dennoch: Bevor sie ihren Erlöser auf den Golgatha schickten, hätten sie wenigstens zugeben können, daß sie ihm so manches zu verdanken haben. Einmal in etlichen Jahrhunderten war unserem unglückseligen Land ein intelligenter Herrscher beschieden worden, doch stieß es auch ihn ab und kreuzigte ihn.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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