Eine Rezension von Reiner Ponier

Balsam für Auge und Gemüt

Konstanze Rupe:
„Drei Wünsche frei“. Kinder aller Länder und ihre Wünsche
Mit Fotos von Thomas Höpker und Thomas Billhardt
Altberliner Verlag, Berlin 1996, 80 S.

Märchen werden in aller Welt erzählt. Sie gehören zum ältesten literarischen Erbe der Menschheit. Allmählich werden uns auch Märchen ferner Kulturen zugänglich. „Wer möchte da nicht etwas über die Kinder erfahren, für die sie bestimmt sind“, fragt der Altberliner Verlag etwas sehr rhetorisch auf dem Einband seiner jüngsten Neuerscheinung.

Von Konstanze Rupe sind bereits zuvor zwei hübsche Kinderbücher mit Illustrationen von Manfred Bofinger erschienen. Diesmal hat sie Kindern von vier Kontinenten, die jetzt bei uns in Deutschland leben, Märchen aus deren Heimat erzählt. Und sie hat sich danach offensichtlich so einfühlsam mit ihnen unterhalten, daß sie ihr sogar geheimste Wünsche anvertraut haben. „Drei Wünsche frei“ - genauso wie im Märchen - heißt das Buch, das daraus entstanden ist.

Auch an der Schwelle zum multimedialen Zeitalter, an der schon jetzt eine seelenlose virtuelle Welt beängstigend Kinder bedroht, beflügeln Märchen wie eh und je die Phantasie. Märchen sind unsterblich. Das ist eine Botschaft dieses Buches. Ganz gegenwartsbezogen ist das Verhältnis der Kinder zu Märchengestalten, verblüffend oft die Sicht. Die Gespräche kreisen um Glück, Liebe, Geborgenheit, die Eltern. Kindliches Denken und Fühlen blitzt in vielen Facetten auf. Erwartungen und Ängste werden artikuliert, Wertewandel und -verfall vielfältig reflektiert. Kinder und Jugendliche sehen die Welt, in die sie hineinwachsen, hellwach.

Über Tod und Teufel wird geredet - was nicht nur als Redensart, sondern sogar wörtlich gemeint ist - und über Gott und die Welt. Nachdenken über Heimat und Fremde und Anderssein. Armut, Krieg, Vertreibung und auch die Anpassung haben Narben hinterlassen. Das Leben in der Fremde ist schwierig. Nicht minder schwierig ist das Zusammenleben Deutscher mit Fremden, auch wenn Maximilian (12) Ausländer an den Grenzen mit dem Transparent „Wir freuen uns auf euch“ begrüßen würde, wenn er „so ein oberer Chef“ wäre, und für Eleonore (14) als Christin alle Menschen gleich sind.

Ein Mangel des Buches ist, daß die Ursachen, die diese Kinder nach Deutschland geführt haben, zumeist im dunkeln bleiben. Nicht wenige Leser, ist zu befürchten, werden sich in ihrem Vorurteil bestätigt fühlen, wenn sie lesen: „Warum seid ihr nach Deutschland gekommen?“ „... ich glaube wegen Geld.“ „Was gefällt dir so an Deutschland?“ „Hier gibt es alles.“ Dem russischen Märchen „Von der Bitteren Not“ schließt sich dieser Dialog an, der ungekürzt eine Druckseite füllt. „Ein Gespräch mit Olga, 10 Jahre.“ Kein Wort mehr erfährt man. Etwas reichlichere Information müßte den Text gar nicht überfrachten. Oft hätte vielleicht schon eine Ortsangabe genügt, einiges zu erhellen.

Wunderschöne großformatige Kinderfotos aus elf Ländern von Thomas Billhardt und Thomas Höpker sind in diesem Buch mehr als nur Illustration. Sie erweitern den Blickwinkel. Das Buch wird durch sie um eine Dimension bereichert. Billhardt, aus dessen Archiv 13 der insgesamt 17 Farbaufnahmen stammen, und der Rezensent kennen einander seit dem Studium vor gut 35 Jahren. Nur zaudernd habe ich deshalb dem Wunsch entsprochen, über dieses Buch zu schreiben.

Als „der renommierteste Fotograf aus den Neuen Bundesländern“ wird Billhardt den Lesern vorgestellt. Der Verlag folgt damit jener gräßlichen Unart der Medien, jeden und alles mit einem Etikett zu versehen. (Privilegiert, renommiert, staatsnah waren immer die aus dem Osten; Stars, Super- und gar Megastars kommen aus den westlichen Gefilden.) Billhardt hat sich mit zahlreichen Veröffentlichungen einen Namen gemacht; seine Bekanntheit verdankt er jedoch auch dem Fernsehen, bei dem er als beredsamer Gast gern gesehen war. Es gibt Fotografen mit mehr Gestaltungskraft und mit ausgeprägterem Gestaltungswillen und auch technisch virtuosere. D e n Alleskönner gibt es in einer Zeit fortwährender Spezialisierung nicht mehr. Billhardt hat erst jüngst die Deutsche Alleenstraße fotografiert. Keines dieser Bilder blieb mir im Gedächtnis. „Drei Wünsche frei“ aber zeigt Faszinierendes von ihm. Seine Stärke liegt in der Art seiner Menschendarstellung.

Billhardt zählt zu den eher seltenen Fotografen, die niemanden mit der Kamera bedrängen. Er beobachtet, am liebsten unbemerkt. Mit längeren Objektiven wahrt er die dafür nötige Distanz, und er bedient sich gern eines Tricks, der ziemlich dem mit der „versteckten Kamera“ ähnelt. Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit stehen für Billhardt obenan. Wer von jeder seiner Reisen in viele Länder solche Kinderfotos mitbringt, wie sie für dieses Buch ausgewählt wurden, der braucht außer fotografischem Können vor allem ein Herz für Kinder. Lange schon ist Billhardt für Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, tätig.

Höpker, der zweite Bildautor, ist mir aus den 50er Jahren als Preisträger internationaler Jugendfotowettbewerbe und später als Fotograf des „Stern“ ein Begriff. Nur einmal, während der Berichterstattung über das alljährliche Festival des Politischen Liedes in Berlin, bin ich ihm persönlich begegnet, und da hörten damals ungebetene Ohren mit.

Billhardt erzählt mit seinen Bildern. Höpker hingegen ist Journalist. Im Genre Reportage ist er ein Großer. Mehr Action, wie das auf Neudeutsch heute heißt, und Milieuschilderung charakterisieren seine Fotos. Sein Stil ist der dynamischere. Er nutzt die Möglichkeiten der „schnellen“ Kleinbildkamera, während Billhardt das größere Mittelformat bevorzugt. Sogar die Verwendung von Umkehrfilm bei Höpker und von Negativmaterial durch Billhardt ist selbst den gedruckten Fotos noch anzusehen.

Jeder hat in „seinem“ Teil Deutschlands in den Jahren der Zweistaatlichkeit Geschichte der Fotografie geschrieben. Jetzt hat ein Verlag die beiden Gleichaltrigen (60) und gleichermaßen Welterfahrenen in einem Buch zusammengeführt. Auch wenn das offenkundig nicht mit tiefer Absicht geschah, sondern aus der Not (bei der Bildbeschaffung) eine Tugend gemacht wurde, reizt das zum Vergleich.

Der aufmerksame Betrachter empfindet das Nebeneinander zweier Handschriften bei den wenigen Fotos und bei so ungleichem Anteil weniger als Bereicherung denn als Stilbruch. Eigenheiten der Bildsprache lassen sich vielleicht am besten anhand von zwei Aufnahmen auf den letzten Seiten andeuten.

Mit dem Weitwinkelobjektiv hat Höpker in gestochener Schärfe die Trostlosigkeit eines Wohnplatzes voller Schmutz und Gerümpel am Rande einer Stadt erfaßt. In einer ausgedienten Badewanne planschen zwei Sinti und genießen ausgelassen ihre bescheidenen Kinderfreuden. Auf dem anderen Foto zeigt Billhardt in engstem Bildausschnitt eine Gruppe vietnamesischer Kinder. Aus der Unschärfe und dem Halbdunkel leuchtet in der Bildmitte ein Mädchengesicht auf. Scharf eingestellt wurde genau auf die Augen. Als Betrachter vermag man den Blick fast nicht wieder abzuwenden von diesen großen strahlenden Kinderaugen. Das sind Fotos, die man so schnell nicht vergißt.

Als ich dieses Buch zum erstenmal durchblätterte, kam mir unversehens ein Podiumgespräch in der Akademie der Künste der „Ehemaligen“ wieder in den Sinn. Ein Könner unter gestandenen Typografen und Buchgestaltern (Ost) hatte dort zum besten gegeben, wie er nach dem Fall der Mauer von einem Verleger (West) in das Verlagswesen unter den Bedingungen der Marktwirtschaft eingewiesen worden war: „Bücher werden nicht gestaltet; Bücher werden gemacht.“ Plötzlich freute ich mich fast kindlich, daß sich solche Weisheit gottlob noch nicht überall herumgesprochen hat. Denn trotz einiger kritischer Anmerkungen: „Drei Wünsche frei“ ist wie Balsam für Auge und Gemüt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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