Eine Rezension von Rudolf Kirchner

Ostdeutsche Geisteswissenschaftler heute

Peer Pasternack (Hrsg.):
Geisteswissenschaften in Ostdeutschland 1995. Eine Inventur
Vergleichsstudie im Anschluß an die Untersuchung „Geisteswissenschaften in der DDR“, Konstanz 1990
Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 1996, 299 S.

Um es vorwegzunehmen: Im Wust der Erinnerungen und Selbstkritiken, der Interpretationen und Spekulationen, der Analysen und Wertungen, der autobiographischen Aussagen und geschichtsphilosophischen Festlegungen, der gesellschaftspolitischen Berichte und soziologischen Abhandlungen aus den Jahren seit 1989 bilden die exakten Studien, die auf genauen Befragungen, Daten und Zahlen beruhen, regelrechte Haltepunkte. Sie liefern das Material für spätere übergreifende Einschätzungen der Prozesse; sie bauen Barrieren gegen das Fortbestehen alter und das Entstehen neuer Legenden. Und deshalb sollte man solche Materialien schon heute genau lesen, auch wenn sie nicht flott geschrieben sind wie viele Titel der „Wendeliteratur“. Spannend ist das hier unterbreitete Material auf jeden Fall.

Mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung hat das Geistes- und Sozialwissenschaftliche Zentrum der Leipziger Universität eine Untersuchung durchgeführt, die ergründen sollte, was aus den geisteswissenschaftlichen Forschungspotentialen der DDR geworden, ist, wie sich die geisteswissenschaftliche Forschungslandschaft der neuen Bundesländer heute präsentiert, wie sich also der ostdeutsche Wissenschaftsumbau - belegt an den Geisteswissenschaften - vollzogen hat.

Eine ausgezeichnete Grundlage für diese Untersuchung bestand in der Existenz einer Analyse, die 1990 durch eine Gruppe Wissenschaftler (Frühwald, Jauß, Kosselek, Mittelstraß, Steinwachs) zu den Geisteswissenschaften der DDR angefertigt worden war. Dieses sogenannte „Konstanzer Projekt“ hatte 911 Fragebogen ostdeutscher Wissenschaftler aus dem universitären und Akademiebereich ausgewertet, davon 40 Prozent Hochschullehrer und 60 Prozent wissenschaftliche Mitarbeiter; 38 Prozent der Befragten waren Frauen. Im Anschluß an die Befragung wurden an den Universitäten in Rostock, Greifswald, Halle, Leipzig, Jena und Berlin Gespräche geführt. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden 1993 veröffentlicht; über die wichtigsten wird hier kurz informiert (S. 22-29). Ein wichtiges Ergebnis der Konstanzer Erhebung bestand in der deutlichen Widerlegung des vielzitierten Klischees, wonach die Hochschulen in der DDR reine Lehranstalten gewesen seien, während die Forschung sich an den Akademie-Instituten vollzogen habe.

Die Vergleichsstudie von 1995 (Leipziger Projekt) wandte methodisch ein ähnliches Herangehen an. Man erfaßte 461 Personen für die Fragebogenaktion, von denen man 201 Antworten erhielt. Die Befragung erfaßte nach den Berechnungen der Wissenschaftler 10,3 Prozent des früheren geisteswissenschaftlichen Kernpotentials der DDR (vgl. S. 35). Anschließend wurden 28 Interviews mit Dekanen bzw. Institutsdirektoren ostdeutscher Universitätseinrichtungen geführt.

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen bilden den Schwerpunkt der vorliegenden Studie. Zuerst werden die Ergebnisse der Fragebogenaktion detailliert und übersichtlich dargestellt. An der Spitze steht die Aussage, daß 54 Prozent der 1990 tätigen ostdeutschen Geisteswissenschaftler 1995 noch wissenschaftlich tätig waren, allerdings 45 Prozent von ihnen in befristeten Stellen. 42 Prozent waren aus der wissenschaftlichen Arbeit herausgefallen, davon 52 Prozent durch den Vorruhestand; 4 Prozent waren Altersrentner.

Im weiteren Text geht es um eine Gegenüberstellung der Konstanzer Empfehlungen von 1990 und der Ergebnisse der Umstrukturierung 1995 (vgl. S. 78-184). Schritt für Schritt werden hier die einzelnen Universitäten und Bereiche vorgestellt, so daß ein sehr eingehendes Bild vom 1990 erhofften Wandel und vom 1995 erreichten Zustand in den verschiedenen Disziplinen (Philosophie, Geschichte, Sprach- und Literaturwissenschaften, Musik-, Kunst- und Kulturwissenschaften, Regionalwissenschaften usw.) entsteht.

Die abschließenden Schlußbetrachtungen geben eine Zusammenfassung der gewonnenen Einsichten. So wird der weitgehende Elitenwechsel festgestellt und ein Resümee über die gegenwärtige Einlösung der organisatorischen, institutionellen und inhaltlichen Empfehlungen des Wissenschaftsrates gezogen. Man könne, so wird eingeschätzt, in diesem Zusammenhang weder von einer „Erfolgsstory“ einerseits oder einer „Wissenschaftskatastrophe“ andererseits sprechen. Für die Neugestaltung der Geisteswissenschaften wären nach Ansicht der Autoren drei Optionen möglich gewesen: „1. Übertragung der westdeutschen Struktur per Institutionentransfer nach Ostdeutschland, unterfüttert mit Personentransfer ...; 2. die Gunst der Stunde nutzend, eine ... die Großinnovation anzielende und dabei ost- und westdeutsche Elemente integrierende gesamtdeutsche Neugestaltung; 3. eine isolierte, auf das ostdeutsche Siedlungsgebiet beschränkt bleibende Strukturinnovation ...“ Herausgekommen sei wesentlich Variante 1 , durch einige der Variante 3 zugehörende Elemente „ornamentiert“ (S. 228).

Im Anhang findet man eine annotierte Bibliographie von 190 Titeln aus den Jahren 1989 bis 1996 zu den Geisteswissenschaften in der DDR und Ostdeutschland sowie Übersichten über seit 1990 aufgelöste bzw. 1995 existierende geisteswissenschaftliche Einrichtungen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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