Eine Rezension von Reinhard Mocek

Es ist nicht mehr vernünftig, gut zu sein

Das Böse. Jenseits von Absichten und Tätern oder: Ist der Teufel ins System ausgewandert?
Herausgegeben von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH unter der Redaktion von Florian Rötzer.
Materialien eines Kongresses im Forum der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 1994.
Steidl Verlag, Göttingen 1995, 373 S.

Zweiundzwanzig Autoren - Soziologen, Anthropologen, Systemforscher, Juristen, Biologen, Psychologen, Philosophen und Journalisten - legen Schneisen durch den schier undurchdringlichen Dschungel eines Grundproblems der Menschheit. Dabei gelten ihnen die alten Tugendlehren allenthalben nichts mehr, was jedoch keinem geschichtsphilosophischen Nihilismus geschuldet ist, sondern einem ganz realen Sachverhalt: Das Böse selbst ist ein anderes geworden! War es früher noch faßbar als das teuflische Gegenprinzip zur göttlichen Welt, als Abirren vom Pfade der Tugend, als Gegenspieler zu den Lichtgestalten der Weltliteratur, der Jago oder auch der Othello, damit die Mehrgesichtigkeit dieses Phänomens umgreifend, absichtvoll intrigant oder verführt naiv - letztlich lag das Böse klar zu Tage, inspirierte menschliche Versuchungen, gefährdete Wohlordnung und Harmonie durch die mehr oder weniger mit Absicht ausgeführte schlechte Handlung. Und so waren auch die Gegenmittel probat - Erziehung, Gebet, Strafe. Bis die Aufklärung eine neue rigorose Forderung aufstellte, die als Grundformel in Immanuel Kants Worten aufscheint, wonach es vernünftig ist, gut zu sein. Das Wissen um ein Etwas allein garantiert, daß es zu Nutz und Frommen für die Gemeinschaft gestaltet werden kann. Das Böse hingegen ist das Prinzip der Unvernunft. Das Wahre ging fortan eine philosophisch über nahezu zwei Jahrhunderte bejubelte Ehe mit dem Guten ein, dem sich, manchmal lustvoll eng, doch nicht selten auch den Nebenpfad suchend, das Schöne angeschlossen hat. Wie gesagt, das war die heile Welt, das zumindest geistig aufgefangene Böse der verflossenen zwei Jahrtausende des christlichen Abendlandes.

Nun aber scheint unsere Gesellschaft von einer anderen Erscheinungsform des Bösen beherrscht zu werden - das „absichtslose Böse“, das Systemböse, das als ein Effekt der komplexen Strukturen aufgefaßt werden müsse, in denen die moderne Gesellschaft das Zusammenleben der Menschen eingebunden hat. Das normale Böse, das absichtvoll auf den Mitmenschen gerichtet ist, wird damit gleichwohl nicht verabschiedet - wie denn auch, wo die gegenwärtige Gesellschaft noch voll davon ist? Aber in den Konferenzthemen kommt dieses aktual Böse nicht vor. Die überwuchernde Kriminalität, der alltägliche Lug und Trug und die banalen Niederungen menschlichen Zusammenlebens bleiben ausgespart. Soziale Übel wie die Vereinigungskriminalität bleiben ebenso außen vor wie die bewußte Täuschung im geschäftlichen wie im politischen, nicht selten im betrügerischen Eigeninteresse. Das ist beileibe kein Vorwurf an die Autoren - nur könnte man bei der Lektüre den Eindruck gewinnen, als habe sich das individuell nicht mehr verantwortbare Systemböse so in den Vordergrund der Gestaltung sämtlicher sozialen Beziehungen gedrängt, daß das absichtsvolle Böse nur mehr noch ein Rudiment einer verflossenen Zeit vorsystemaren Agierens sei. Doch dem ist ja leider nicht so.

Das absichtslose oder Systemböse nun wurzelt nicht schlechthin in der Dominanz komplexerer Strukturen und sozialer Mechanismen, denn die Systemwelt der auslaufenden Moderne ist ja beileibe nicht über Nacht gekommen, sondern muß spätestens mit der Herausbildung der großen Industrien, der Entstehung komplexer sozialer Handlungssysteme in Politik und Wirtschaft sowie der bürokratischen Vernetzung der Verwaltung angesetzt werden. Und das liegt in der Tat über ein Menschenalter zurück. Was sich aber erst im letzten Jahrzehnt herauszuformen beginnt, das ist eine völlig neue Einstellung der handelnden Subjekte auf diese neuen Strukturen. Und die Geburtsstunde dieser neuen Einstellung wird mit dem Siegeszug der elektronischen Medien, der schier grenzenlosen informationellen Vernetzung der Welt und der wertneutralen Organisation ihrer Verfügbarkeit abgesteckt. Der autonom handelnde und selbstverantwortliche Mensch ist angesichts dieser neuen Wirklichkeit nun nicht schlechthin einfach untergegangen, aber er hat eine ganze Reihe von moralischen Handlungsmaßstäben als irrelevant zu betrachten gelernt. Die Verantwortung für das durchstrukturierte Ganze ist nicht mehr einsichtig zu machen, da dieses Ganze selbst jeglicher individuellen Einsichtigkeit entbehrt. Auf dieser informationellen Revolution unserer Welt bauen sich folgerichtig neue kulturelle Kontexte auf, die sich in einer Virtualität von Handlungen und Handlungsmöglichkeiten stets aufs neue entwerfen und mithin unserer individuellen Entscheidbarkeit völlig entglitten sind. Diese virtuellen Realitäten sind es vor allem, die die traditionellen Kontexte für gute oder böse Taten, für das Wirkliche und Nichtwirkliche als Wertungsmodalitäten, für das wahre oder falsche Abbild nicht mehr verifizierbar machen. Das aber bildet nicht nur für Philosophie und Wissenschaft, für Pädagogik und Jurisprudenz einen völlig neuen Erfahrungshintergrund, sondern wird vor allem durch bestimmte medial besonders affizierte Sparten der Kunst zu einer durchgreifend neuen sinnlichen Erfahrungswelt transformiert, die insofern im Ensemble der geistigen Kultur die erste Geige zu spielen übernommen hat, als ihr täglicher Einfluß auf das geistige Konsumententum quantitativ absolut überwiegt. Vor allem in den Beiträgen von Arthur Kroker (Das virtuelle Böse) und Jay David Bolter (Schuld und Verantwortung in einer vernetzten Kultur) wird dieser Bereich postmoderner Realität eindrucksvoll, ja beängstigend demonstriert. Die gewohnte Grenzziehung zwischen dem Bösen und dem Guten verfließt; und die Unentscheidbarkeit jederart von Authentizität in filmischen Darstellungen verändert die ursprünglichen Botschaften, nach denen das Böse letztlich unterliegt, weil eine derartige Emanzipation des Guten vom Bösen längst nicht mehr durchgeführt wird. Der Zuschauer, der bislang stets parteiisch auf die Seite des ihm vorgeführten Guten überging, wird in ein moralisch kaum mehr aufspaltbares Geschehen integriert und kann sich als Betrachter nicht mehr unschuldig an den betrachteten Vorgängen wähnen. Und diese Vorgänge eben - seien sie als Nachrichten über Ereignisse oder Gestaltungen von Szenarien aufgemacht - stehen selbst zunehmend einer solchen Wertungsaufspaltung entgegen. Hier das Gute und dort das Böse - das funktioniert nicht mehr, sondern verfließt in verschiedenartigen virtuellen Kompositionen, denen aber die eine wirkliche Welt als eine solche nicht mehr identifizierbar gegenübersteht. Da ist es nur plausibel, daß alle politischen Botschaften über das virtuell Tatsächliche per Informationsnachhilfe nachgereicht werden. Was das Böse inmitten eines politischen Konfliktes ist, wird vom Überbringer ausdrücklich hinzugesagt.

Angesichts eines solchen Trends der postmodernen Wirklichkeit (die eben nicht mehr die eine nach den Maßstäben des Wahren, Guten und Schönen definierbare ist) erinnern die Streits der Biologen, ob es denn im Wesen der Evolution liegt, daß sich das Böse im Menschen auf so vielfältige Weise äußern würde, an die Maßstäbe der Aufklärung. Während Gerhard Roth seine Lorenz-Kritik zu der Folgerung führt, kein Mensch sei zur Aggression verdammt (S. 82), erblickt Josef H. Reichholf die Wurzeln des Bösen sämtlich in der Evolution (S. 102). Vorsichtig hingegen Volker Sommer, der diese Frage nicht für entscheidbar hält. So bleiben neben den brisanten Analysen zur medialen künstlerischen Umsetzung der neuen kulturellen Kontexte in einer Welt virtueller Realitäten, die unbestreitbar den kognitiven Wert dieses Buches bilden, die traditionellen Betrachtungen zum Systembösen eher im Bereich der gewohnten sozialwissenschaftlichen Unverbindlichkeit. Einig ist man sich, daß das Böse die Moderne besiegt hat, weil seine Streitmächte an allen Enden und Ecken die bisherige Geschichte beherrschen. Und was ist mit der Freiheit, die ja triumphal am Ausgang der Moderne in die virtuelle postmoderne Welt stehe? Für sie wurde das Böse als Preis bezahlt und hingenommen. Das Böse als der für unsere Freiheit gezahlte Preis - das ist die Umkehrung des Kantschen Satzes, daß die Freiheit in der vernunftbegründeten Vermeidung des Bösen bestehe.

Alles in allem ein wichtiges, interessantes, für nachdenkliche Stunden bestens geeignetes Buch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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