Eine Rezension von Kathrin Chod

Die Anfänge des Dritten Reiches

Heinz Höhne: „Gebt mir vier Jahre Zeit“
Ullstein Verlag, Berlin, 1996, 576 S.

Philipp Jenninger war überrascht. Die Rede war doch nicht schlecht. Wie konnte man ihn nur so mißverstehen?

Man wird doch wohl im Deutschen Bundestag die Frage erörtern dürfen, wieso im Dritten Reich ein Großteil der Bevölkerung doch recht widerspruchslos alles Unrecht hingenommen habe. Womit Jenninger nicht gerechnet hatte, waren seine mangelhaften rhetorischen Fähigkeiten und die Eigenschaft von Abgeordneten, bei Reden nur mit halbem Ohr hinzuhören. So ging in der folgenden aufgeregten Debatte auch die Frage völlig unter, die Jenninger mit seiner Rede aufwerfen wollte. Wie konnte Hitler innerhalb kurzer Zeit Millionen Deutsche hinter sich bringen, die in der Folge wegsahen oder mitmachten?

Heinz Höhne, ehemaliger Spiegel-Mitarbeiter, trat in der Vergangenheit bereits mit umfangreichen und vielbeachteten Büchern über Geheimdienste und die SS hervor. Hier nimmt er sich nun die erfolgreichen „Friedensjahre“ von 1933 bis 1936 in Deutschland vor. Nicht Propaganda allein, echte innen- und außenpolitische Erfolge jener Jahre, vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Weimarer Republik, könnten die Popularität erklären, die die nationalsozialistische Führung in der deutschen Bevölkerung erlangte.

So beginnt Höhne auch folgerichtig mit der Beschreibung der elenden sozialen und ökonomischen Lage, in der sich Millionen Deutsche zum Ende der Weimarer Republik befanden. Er veranschaulicht das mit ganz konkreten Beispielen. Wieviel verdiente oder erhielt ein Arbeiter oder ein Arbeitsloser und was mußte er wofür ausgeben. Wirtschaftsaufschwung und Abbau der Arbeitslosigkeit erklären, so Höhne, wie große Teile der Arbeiterschaft zu treuen Gefolgsleuten des Regimes wurden und Unterdrückungspraktiken einfach hinnahmen. Wen wundert es, wenn selbst führende Sozialdemokraten wie Otto Wels, Paul Hertz, und Friedrich Stampfer, von Göring mit Sonderpässen ausgestattet und in die Bekämpfung der „jüdischen Greuelpropaganda“ eingewiesen, an der „Abwehrpropaganda des Regimes“ teilnahmen. Der Bankier Max Warburg und der Zionist Martin Rosenbluth erklärten im Ausland, daß es keine Judenverfolgung in Deutschland gäbe.

Und das Ausland? Zur seiner Reaktion resümiert Höhne: „Ohne gemeinsames Konzept, hin und her gerissen zwischen den nationalen Egoismen und tagespolitischen Taktiken“, fehlte „jede Kohärenz und automatische Risikobereitschaft, die allein Hitlers Deutschland hätte beeindrucken können.“ So wurden die Wiederangliederung des Saarlandes, der Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland, die „Wiedererlangung der Wehrhoheit“ hingenommen und die deutsche Aufrüstung mit dem deutsch-britischen Flottenabkommen praktisch legitimiert.

Autobahnbau, Olympiade, KdF-Reisen, Ausschaltung politischer Gegner, Auseinandersetzungen um den Weg zur Aufrüstung in Deutschland, Gleichschaltung von Staatsapparat und Verbänden, erste Judenboykotte, Röhmaffäre sind nur einige weitere Stichworte, die Höhne in seinem Buch behandelt. Wie kamen Entscheidungen zustande? Wer setzte seine Interessen wie durch? Bei der Beantwortung dieser Fragen zeichnet Höhne ein komplexes und vielschichtiges Bild von Deutschland nach 1933. Dieses Bild widerlegt Thesen einer „hitlerzentristischen Geschichtsschreibung“ von einem monolithischen Staat. Daß in diesem Buch vor allem Material verdichtet wurde, das genau dieser Auffassung widerspricht, ist verständlich. Zu einigen Themen, beispielsweise den ersten Judenboykotten, muß Höhne denn auch vor allem als Ergänzung zu Darstellungen anderer Historiker gelesen werden.

Hervorzuheben ist in jedem Fall die überaus differenzierte Darstellung der Röhmaffäre, sprich Kampf um die führende militärische Rolle im Reich.

Deutlich wird, wie weit die Eliten von Industrie und Militär mit dem Regime verwoben waren. Wie viele einzelne, ohne unbedingt überzeugte Nationalsozialisten zu sein, zur Festigung des Systems beitrugen und ihre eigenen Interessen sehr wohl dabei durchzusetzen verstanden. Das Militär neben dem NS-Funktionärskorps als zweite Säule der Staatsführung, dann erweitert durch die Großindustrie. Eine Allianz, die immer sichtbarer zum „tragenden Machtkartell des Dritten Reiches“ avancierte. Mit der gängigen Totalitarismustheorie, so Höhne, ließe sich das Herrschaftsmodell des Dritten Reiches nicht erklären. „Historiographisch besitzt die Totalitarismustheorie nur einen geringen Erkenntniswert, entstammt sie doch weniger wissenschaftlichem Forscherdrang als ideologischem Tagesstreit. ... Der NS-Staat wurde bald zu ihrem bevorzugten Studienobjekt, später aber auch der Kommunismus, bis die Totalitarismustheorie im Kalten Krieg zwischen West und Ost zur antikommunistischen Ideologie verkam.“

Höhne hat in seinem Buch eine Unmenge von Literatur und Quellen verarbeitet, so daß es für sich schon eine Leistung darstellt, diese Fülle in eine flüssig lesbare Form gebracht zu haben. Darüber hinaus wurden fast alle maßgeblichen Bücher einbezogen, die in Westeuropa und den USA erschienen sind. Arbeiten aus der jüngeren Zeit zur Sozialpolitik des Dritten Reiches, wie Smelsers Buch über den Führer der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, konnten offensichtlich nicht mehr berücksichtigt werden. Allen Wertungen von Höhne konnte ich allerdings nicht folgen. Hermann Göring und Adolf Hitler bei der Einschätzung des Reichstagsbrandes als Opfer ihrer eigenen Propaganda? Das heißt, die Glaubwürdigkeit von Äußerungen überschätzen, die ja immer auch gezielt eingesetzt werden. Auch wenn unterstellt wird, daß Adolf Hitler ausgerechnet dem britischen Staatssekretär Anthony Eden seine ehrliche Meinung zur SA anvertraut, ist das wenig glaubwürdig. Ebenso die Einschätzung von Hitlers Haltung zur Weiterführung oder Beendigung der „nationalsozialistischen Revolution“. Es lassen sich Äußerungen von Hitler sowohl im einen wie im anderen Sinne finden, so daß eine endgültige Wertung nicht möglich ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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