Eine Rezension von Helmut Fickelscherer

Annäherung an eine Stadt

Georg Hermann: Spaziergang in Potsdam
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1996, 160 S.

Wie nähert man sich einer Stadt an, um ihr Wesen zu erkunden? Nicht mit der Nase im bebilderten Reiseführer, nicht in der dahintrottenden Reisegruppe, nicht mit einem Stadtführer, der die stereotypen Stadtbilderklärungen von sich gibt, und nicht in Eile ... Georg Hermann macht uns vor, wie es am besten funktioniert. Als Spaziergänger dahinschlendernd, durchquert er die Straßen Potsdams, setzt sich zuweilen auf eine Bank, um Ein- und Ausblicke zu gewinnen, um architektonische Einzelheiten zu betrachten, städtebauliche Konzeptionen nachzuvollziehen und zu überdenken ...

Potsdam, wie es sich ihm Ende der zwanziger Jahre darbietet, hat noch viel von jener Anlage, in der sich „vier Städte ständig durchdringen. Die Königsstadt. Die Militärstadt. Die Beamten- und Verwaltungsstadt. Und die Bürgerstadt“. Und Potsdam ist nicht durch städtebaulichen Wildwuchs entstanden, sondern „zu sieben Achteln eine durch Fürsten gebaute, planmäßig und ohne Willkür gebaute Stadt“. Friedrich II., der sie entscheidend prägte, hat beispielsweise u. a. 1200 Häuser errichten lassen.

Georg Hermann, kunstsinnig und architekturbegeistert (sein Bruder war Architekt), bringt uns wie kaum jemand anders diese Stadt nahe, nicht wissenschaftlich-didaktisch, sondern mit Sensibilität und unter Einbeziehung vieler schöner Details. Er spricht über Potsdams Baumeister: Knobelsdorff, Boumann den Älteren, Gontard, Unger, Manger, Dietrich, Krüger, Schulz ... Er zeigt uns Gebäude, beeindruckend durch gekonnte architektonische Lösungen, durch Schlichtheit, aber mitunter auch Prunk. Er weist auf Raumwirkungen hin, „weil in der Stadt Potsdam in vorbildlicher Weise jedes, aber auch jedes Bauwerk mit der Gesamtheit, mit der Umgebung, mit der Straße, dem Platz in Einklang gebracht worden ist“. Er entdeckt für uns Kunst am und im Bau, Bauplastiken, Rokokobilder in Rokokoräumen.

Und plötzlich - gerade wird der Hofplatz des Stadtschlosses besichtigt - stehen da im Buch die Worte: „... Geschichte bekommt doch wirklich erst Leben, wenn sie tot ist; und über Schlössern und Schloßhöfen muß Stille liegen, wenn die Menschen von einst durch ihre Kunst zu uns sprechen wollen.“ Nun wird dem Leser offenbar, daß in der liebevoll und sachkundig beschriebenen Stadt die Menschen aus Georg Hermanns Zeit fehlen. Potsdam mit seinen Bauwerken ist uns lebendig geworden, aber es lebt nicht eigentlich - ohne seine Bewohner. Man schreibt das Jahr 1929, die Weltwirtschaftskrise beginnt, bald werden soziale Konflikte das Land in den Grundfesten erschüttern ... Beunruhigt macht sich der Leser auf die Suche nach Realitätsbezügen. Da findet sich der Satz: „... in zehn Jahren ... werden z. B. auch die paar nicht nennenswerten Devastierungen, die in Potsdam, Sanssouci oder Pfaueninsel durch rohe Hände in der Revolution geschehen sind, längst behoben sein ...“ Und man fängt an zu rechnen: Ein Jahrzehnt später, 1939, beginnt der Zweite Weltkrieg, in dessen Verlauf Potsdam noch im April 1945 in Schutt und Asche sinkt. Wie zwanghaft schlägt man nach dieser Überlegung immer häufiger das im Anhang des Bandes vorhandene Verzeichnis der im Text genannten „Straßen, Gebäude und Kunstwerke“ auf und findet leider nur zu häufig die kurze Bemerkung: „nicht erhalten“. Und in das Bedauern über diese Verluste mischt sich die Trauer um den Autor, der den Nazis zum Opfer fiel, Leuten, die er in seinem Buch (1929) noch verharmlosend als „Rassefexe“ bezeichnet.

Erst als Georg Hermann ein paar Seiten weiter uns die Faszination Sanssoucis nahebringt, geraten wir wieder in seinen Bann, weicht allmählich die Beklemmung. Er sagt: „Sanssouci - als Komplex, diese ganze Welt für sich von Gärten, Zierbauten und Schlössern - ist eine singuläre Angelegenheit, die einmal entstehen konnte, aber nie wieder entstehen wird. ... weil niemand in der Welt mehr das Recht hat ..., für seine Person einen solchen Traum, eine solche Phantasmagorie von Schönheit und Auserwähltheit in die Wirklichkeit umzusetzen, als Ausdruck seines Wesens und seiner Machtvollkommenheit.“ Fast scheint es der Autor zu bedauern, daß in Zukunft „Volksgärten, Sportgärten, Lungen der Großstadt“ und „Autostraßen“ gebaut werden müssen, und mit nahezu schwärmerischer Nostalgie beschreibt er Sanssouci: Die Schlösser und den Park, die Skulpturen, den chinesischen Pavillon ..., alles in allem den verwirklichten Traum Friedrichs II., aber auch die mit Charlottenhof und anderen Teilen der Anlage verknüpften Aktivitäten von Friedrich Wilhelm IV., dem „Romantiker auf dem preußischen Thron“.

Immer wieder stellt Georg Hermann die Frage, ob wir das Recht haben, über Jahrhunderte harmonisch gewachsene Städte und ihre Garten- und Parkanlagen einschneidend zu verändern, auf die Gefahr hin, daß „ein Stück Schönheit unwiederbringlich aus der Welt geht“. Und in bezug auf Sanssouci fordert er, daß es „uns als eine Insel in einer immer zweckhafter werdenden Gegenwart erhalten bleiben soll, unberührt bis auf den kleinsten Stein ...“ Was die Stadt Potsdam betrifft, so sieht er die Angelegenheit doch realistischer: „Potsdam in seinem Stadtbild, in seinen Platzlösungen, in seinen Haustypen von einfacher Liebenswürdigkeit, mit seinem ganzen, fast unerschöpflichen Reichtum an Lösungen des Bürgerhauses, ist hingegen voll von Anregungen für unsere Zukunftsaufgaben des Städtebaues.“ In einem aber ist er sich sicher: „... ganz gleich, wie die Dinge sich entwickeln: Potsdam und Sanssouci werden stets als geschichtliche Stätten die Verehrung Deutschlands haben und der sorgsamen Pflege jeglicher Regierung sicher sein, genauso wie Versailles in Frankreich.“

O ja, die Dinge haben sich entwickelt! Manches an Bausubstanz, was der Krieg übrigließ, ist zu DDR-Zeiten abgetragen worden, anscheinend aus dem Gedanken heraus, daß das sich nur zögerlich herausbildende sozialistische Bewußtsein nur in einer Umgebung gedeihen könne, in der Zeugnisse des Feudalismus und preußischen Militarismus verschwinden. Und so focht man mit dem doch mausetoten Feudalismus, während der Kapitalismus das Land unaufhaltsam unterwanderte. Aber es muß da natürlich auch differenziert werden: Einerseits der unverzeihliche Abriß z. B. der Garnisonkirche, andererseits die Kapitulation vor der Schwierigkeit der Erhaltung ganzer historischer Straßenzüge in einer Zeit ständig sich verringernder finanzieller Mittel, von Baumaterialien und Arbeitskräften ganz zu schweigen. Und es war eben einfacher und erschwinglicher, Neubauten zu errichten, um den ungeheuren Bedarf an Wohnungen annähernd abzudecken.

Ein weiteres Problem stellt sich: Wollen und können wir in Städten wohnen, die sich seit vielen Jahren nicht verändert haben und den Anforderungen der modernen Zeit nur ungenügend entsprechen? Wie kann Altes mit Neuem sinnvoll verbunden werden, wie kann verhindert werden, daß eine „beziehungslose“ Architektur entsteht? Unesco-Anforderungen bezüglich des Schutzstatus einer erhaltenswerten Stadt zum einen, zum anderen die Errichtung eines zeitgemäßen Handelskomplexes, Diskussionen um „Baumasse, Bauhöhe und Baudichte“ des Potsdam Centers ... Georg Hermann lehnte derlei „Merkantilismus“ rundweg ab und mokierte sich schon über Firmenschilder, die quer über historische Fassaden geschraubt worden waren. Er favorisierte die alten Zunft- und Innungszeichen über den Haustüren, aber wären sie ausreichend in einer Zeit des Konsumdenkens und erbitterter Konkurrenz?

So wird Georg Hermanns schönes, lesenswertes und einfühlsames Potsdam-Buch unversehens zu einer Grundlage für Diskussionen um alte Städte und neue Architektur, um Tradition und Gegenwart, um Bewahrenswertes und Vergängliches.

Mit dem Spaziergang in Potsdam liegt Band 14 der von Gert und Gundel Mattenklott im Auftrag des Fachbereichs Germanistik der Freien Universität Berlin und des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam herausgegebenen Ausgabe der Werke und Briefe Georg Hermanns vor. Und es ist ein bemerkenswert gut ediertes Buch: Das Nachwort von Gundel Mattenklott über Georg Hermanns „versunkenes Vineta“ ist keine herausgeberische Pflichtübung, sondern eine intelligente Auseinandersetzung mit dem Text und den Intensionen des Autors. Außerdem gibt es das bereits erwähnte Straßen-, Gebäude- und Kunstwerkeverzeichnis, 55 stimmungsvolle und aussagekräftige Fotos von Gerhard Murza aus dem heutigen Potsdam und Sanssouci (mit Zitaten aus dem Text als Bildunterschriften), eine „Editorische Notiz“ über andere Ausgaben des Buches und sprachliche Eigenheiten des Autors, weiterhin Anmerkungen und eine Aufstellung der im Text erwähnten Potsdam-Literatur - alles sehr sinnvoll.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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