Eine Rezension von Klaus Ziermann

Einfach zu wenig Alternative

Horst Heimann (Hrsg.): Sozialdemokratische Tradition und
Demokratischer Sozialismus 2000
Bund-Verlag, Köln 1993, 231 S.

Der geistige Anspruch dieses Buches war 1993 ziemlich hoch angesetzt worden: Es sollte einerseits wichtige sozialdemokratische Traditionen aufarbeiten und sie gegen die „politisch mächtige Konservative“ ins Feld führen, andererseits die vor allem von CDU/CSU propagierte Auffassung widerlegen, daß nach dem Scheitern des „realen Sozialismus“ in Ost- und Mitteleuropa 1989/90 „die wechselvolle Geschichte des Demokratischen Sozialismus in Westeuropa an ihren historischen Endpunkt gelangt sei.“ (S. 7) In beiden Fällen sollte also die Herausforderung des Konservatismus angenommen und eine spürbare Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der SPD, ihrer politischen und geistigen Positionen vorgenommen werden. Das zumindest war die erklärte Absicht des Herausgebers Dr. rer. pol. Horst Heimann. Der stellvertretende Leiter der Gustav-Heinemann-Akademie in Freudenberg schrieb ohne Umschweife: „Obwohl die SPD mit ihrem neuen Berliner Grundsatzprogramm von 1989 intellektuell weit mehr anzubieten hat als jede andere Partei, steht sie in den intellektuellen Diskursen wesentlich schlechter da als in der direkten tagespolitischen Auseinandersetzung. Das hängt damit zusammen, daß sie das geistige Kapital ihrer Tradition und des Berliner Programms im Sparstrumpf versteckt hat, statt es gewinnbringend in den intellktuellen Diskursen anzulegen.“ (S. 9)

An anderer Stelle wurde Dr. Heimann noch ungehaltener, als er resümierte: „Wenn auch noch nicht die Mehrheit der Linksintellektuellen insgesamt, so hat sich doch die überwältigende Mehrheit derer, die sich noch in den öffentlichen Diskursen äußern, der liberal-konservativen Auffassung vom Sieg über den Sozialismus jedweder Art angeschlossen. Infolge dieser geistigen Kapitulation der intellektuellen Linken konnte das liberal-konservative Spektrum daher ohne große geistige Anstrengungen die unbestrittene ideologische Herrschaft erringen.“ (S. 98)

Die Verärgerung von Dr. Heimann war durchaus verständlich. In vielen geistigen Debatten und - noch schlimmer - bei mehreren Wahlen der neunziger Jahre erlitt die SPD herbe parteipolitische Einbußen. Doch was hielt er dem „konservativ-liberalen“ Regierungsbündnis von CDU, CSU und FDP entgegen, um seinerseits das geistige Kräfteverhältnis zu verändern?

11 konzeptionell angelegte Beiträge behandeln historische, strategische und neue tagespolitische Aspekte der zum Demokratischen Sozialismus gekürten SPD-Gesellschaftspolitik. Susanne Müller: „Die Erfahrungen der Arbeiterbewegung und der Marxismus des Erfurter Programms von 1891 - Zum Verhältnis von Theorie und Praxis“; Helga Grebing: „Die Traditionen des ,demokratischen Sozialismus` als Anti-These zum Marxismus-Leninismus - Der Weg zum Godesberger Programm“; Kurt Nemitz: „Markt und Plan - Zur Entwicklung sozialdemokratischer Konzeptionen von Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik“; Erhard Eppler: „Das Berliner Programm von 1989 - Grundlage für den Demokratischen Sozialismus 2000“; Horst Heimann: „Der Demokratische Sozialismus im Westen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Osten“; Karl Georg Zinn: „Analyse und Kritik des Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des ‚Realsozialismus‘ - Zum Verständnis der Widersprüche reicher Gesellschaften“; Wolfgang Thierse: „Überwindung der neuen Ost-West-Spaltung - Bewährungsprobe für den Traditionswert Solidarität“; Regine Hildebrandt: „Politik für Frauen in den ostdeutschen Bundesländern“; Heidemarie Wieczorek-Zeul: „Demokratischer Sozialismus 2000 - Das Ende des Patriarchats?“; Franz Steinkühler: „Gewerkschaften streiten für eine solidarische Gemeinschaft“; und Karlheinz Blessing: „SPD 2000 - Tradition und Modernisierung“.

Es handelt sich um interessante, brisante Themen - zweifellos. Doch die von Dr. Heimann ausgewählten Beiträge sind nicht nur - was normal ist - in der Schreibweise ihrer Autoren, sondern auch in ihren Aussagen, Ergebnissen und Konsequenzen recht unterschiedlich. Den geschlossensten Eindruck machen - obwohl sie sich genau an das Geschichtliche halten und nur wenig zu aktuellem, „neuem Denken“ anregen - die historischen Analysen von Susanne Miller, Helga Grebing und Karl Georg Zinn: „gut gemachte Hausaufgaben“ mit altbewährten Erkenntnissen. Der von vielen praktischen Erfahrungen moderner Gewerkschaftsarbeit geprägte Beitrag Franz Steinkühlers dürfte hingegen in künftigen Auseinandersetzungen mit dem „konservativ-liberalen Spektrum“ mehr an Bedeutung gewinnen, als es manchem Seminarteilnehmer an der Gustav-Heinemann-Akademie lieb ist; dafür sorgt schon das zielstrebige Vorgehen von CDU/CSU, FDP und Unternehmerschaft beim Abbau wichtiger Errungenschaften des Sozialstaates in den letzten Jahren.

Erhard Eppler versteht es im grundsätzlichsten aller Beiträge, gekonnt mit Worten und Bildern zu jonglieren. Das klingt zum Auftakt sogar gut und originell: „Es war nicht gewollt, es war Zufall, daß die deutschen Sozialdemokraten just in dem Augenblick mit ihrem Grundsatzprogramm fertig waren, als das System zusammenbrach, das ‚real existierender Sozialismus‘ hatte sein wollen. Es war doch wohl ein glücklicher Zufall, daß genau in dem Augenblick, als die Frage aufkommen mußte: ‚Und was ist mit dem demokratischen Sozialismus?‘ eine Antwort vorlag, an der die Partei mehr als fünf Jahre, nimmt man die Vorarbeiten der Grundwertekommission dazu, mehr als zehn Jahre gearbeitet hatte.“ (S. 74) Im weiteren Verlauf des Artikels erweist sich jedoch, daß dieser Auftakt eher Strohfeuer bleibt und die Antworten des Demokratischen Sozialismus, wie Erhard Eppler ihn handhabt, in Abstraktheiten und Allgemeinplätzen enden. Was könnte ein mit „König Kurt“ und seiner CDU-Politik unzufriedener Sachse aus Chemnitz, der früher bei Fritz-Hekert seiner Arbeit nachging, oder ein Anhaltiner aus Magdeburg, der bei SKET seine Anstellung verloren hat, aus Erhard Epplers „Unser Bild von Wirtschaft“, „Unser Bild vom Staat“ oder „Unser Bild von Politik“ Offensives vom Demokratischen Sozialismus entnehmen? fragte ich mich beim Lesen. Welche geistige Alternative wird ihnen gegen den Konservatismus geboten? Etwa diese: „Noch heute erscheint mir ein unscheinbarer Satz als der revolutionärste des Programms: ‚Wir wollen keine von ökonomischen Interessen manipulierte Kultur, nicht die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche, sondern eine Wirtsschaft, die sich in eine Kultur des Zusammenlebens einfügt.‘“ (S. 84)? Oder: „Auch der Staat muß Teil dieser Kultur des Zusammenlebens sein ... Der Staat ist Garant des Rechts und vor allem Garant der Grundrechte. Von daher bekommt er sogar so etwas wie Würde.“ (S. 87) Oder: „Wir brauchen also auch mehr Politik, mehr Ringen um das Richtige, mehr wertbezogenes Entscheiden. Politik muß sich in Bereiche vorwagen, die bisher als unpolitisch galten.“ (S. 90)

Mehr als Wunschdenken hat auch Heidemarie Wieczorek-Zeul nicht parat. Ihre Frage nach dem „Ende des Patriarchats“ dürfte sie auch nach 2001 - selbst bei einer SPD-Regierung in Bonn - noch immer mit Nachdruck stellen können. Und vielleicht klingt dann ihre Schlußfolgerung noch genauso allgemein und nebulös, wie sie schon 1993 klang: „Ich fürchte, das Jahr 2000 wird nicht als der Endpunkt männlicher Herrschaft in die Geschichte eingehen. Aber auch nicht als Endpunkt für die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus mit gerechter Teilhabe von Frauen.“ (S. 201-202)

Leider sind die Beiträge von Wolfgang Thierse und Regine Hildebrandt, die Stimmungen in den neuen Bundesländern reflektieren, nicht viel produktiver. Thierse ist zweifellos im Grundsätzlichen zuzustimmen, wenn er schreibt: „Ob und inwieweit wir unsere Demokratie, unsere Verfassung, Grundrechte und Mitmenschlichkeit verteidigen können, wird auch und nicht zuletzt dadurch entschieden, ob und wie wir die ökonomischen, sozialen, menschlichen Probleme des Umbruchs und der Vereinigung lösen, ob und wie wir den Menschen ökonomische, soziale, menschliche Sicherheit zu schaffen vermögen - zunächst und vor allem im Osten Deutschlands, dann aber genauso im Westen.“ (S. 163) Logisch ist auch seine Forderung: „Die SPD kann nicht dabei stehenbleiben, nur moderierend zu diesen Auseinandersetzungen Stellung zu nehmen. Wir müssen selbst dafür Vorstellungen entwickeln, wie ein sozial tragfähiger Ausgleich aussehen könnte.“ (S. 168) Doch wo bleiben diese Vorstellungen?

Der einzige Beitrag, der durch Konkretheit überzeugt, stammt aus der Feder von Karlheinz Blessing. Aber die konkreten Fakten, die dort vermittelt werden, sprechen nicht gerade für eine geistige SPD-Offensive unter der Losung des Demokratischen Sozialismus, nicht von einer Kräfteveränderung in der politischen Auseinandersetzung mit dem konservativen Spektrum an der Regierungsgewalt, sondern eher vom Gegenteil, von „Krise“: „Obwohl in den alten Bundesländern die Zahl der Neueintritte 1990/91 mit rd. 65 000 erfreulich hoch ist, überwiegen 1991/92 die Abgänge derart, daß die Zahl der Parteimitglieder insgesamt auf unter 900 000 abgerutscht ist. In den neuen Bundesländern ist die SPD zwar die einzige demokratische Partei mit Zuwachsraten, allerdings auf niedrigem Niveau von knapp 30 000 Mitgliedern und Steigerungsraten, die jährlich nur bei 10 Prozent liegen dürften. Die Sozialstruktur der Mitglieder entwickelt sich problematisch, es gibt immer weniger junge Menschen, die in die Partei eintreten: Nur noch 5 Prozent der SPD-Mitglieder sind jünger als 25, weitere 13 Prozent sind 25-34 Jahre, während dies in der Gesamtbevölkerung jeweils 14 Prozent bzw. 20 Prozent sind.“ (S. 221)

Eine wenig beneidenswerte Situation. Ob es daran liegt, daß der Demokratische Sozialismus, wie er in dem von Dr. Horst Heimann zusammengestellten Band „Sozialdemokratische Traditionen und Demokratischer Sozialismus 2000“ verfochten wird, derzeit zu wenig geistiges und politisches Profil besitzt?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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