Eine Rezension von Reinhard Mocek

Die Schöpfer der Moderne auf dem Prüfstand
der Kreativitätstheorie

Howard Gardner: So genial wie Einstein
Schlüssel zum kreativen Denken.
Aus dem Amerikanischen von Ute Spengler.
Klett-Cotta, Stuttgart 1996. 555 S.

Ein sympathisches Buch der typisch amerikanischen Art: strenge Problemdefinition, mustergültiges methodisches Vorgehen, ständige, auf die Zwischenergebnisse bezogene kritische Reflexionen nach allen Abschnitten, dabei eine lockere und klare Sprache, ständiges Bemühen um den Leser, lieber eine Verdeutlichung mehr als zuwenig - das ganze Gegenteil also zu den hierzulande verbreiteten sozialwissenschaftlich intendierten und vorgeblich für ein größeres Publikum bestimmten Büchern, deren Autoren oft genug zu glauben scheinen, durch ihren penetranten Fachjargon, durch Leserfremdheit und gespreizten Ausdruck seriöse Wissenschaftlichkeit vorweisen zu müssen. Das hat Howard Gardner, der Psychologe aus Harvard, der gar nicht überraschend Preisträger des National Psychology Award for Excellence in the Media ist, ganz offenkundig nicht nötig. Und, zugegeben, er hat es in mancher Beziehung auch leichter, spricht doch sein Wissensgebiet, die Kognitionspsychologie, fast von allein ein größeres Publikum an.

Gardners Absicht ist umfassend und anspruchsvoll genug - es geht ihm um die Inspektion einer Epoche, die er über sieben Persönlichkeiten vornimmt, „deren Entdeckungen die Moderne einläuteten“ (S. 22). Diesem schwierigen Begriff widmet er gleichwohl den Versuch einer Zeitbestimmung, mit der er sich allerdings in Widerspruch zu ziemlich allen neueren Studien setzt, wenn er die Moderne etwa ein Jahrzehnt vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts anbrechen läßt. Der Grund ist einsichtig, denn in diese Zeit fällt die Hauptschaffenszeit seines ersten „Probanden“, Sigmund Freud. Dann folgen Albert Einstein, Pablo Picasso, Igor Strawinsky, der amerikanische Dichter Thomas S. Eliot, der allerdings vor allem in England wirkte, die amerikanische Tänzerin Martha Graham und der indische Politiker Mahatma Gandhi. Dieses aus vielen vergleichbaren Kandidaten ausgewählte Septett der „Schöpfer der Moderne“, wie er das diesen sieben Biographien gewidmete Kapitel überschreibt, trug also ihre „Schöpfungszeit“ ziemlich weit in das 20. Jahrhundert hinein. Die These, daß sich hier nun die postmoderne Zeit angeschlossen habe, entnimmt Gardner ziemlich kritiklos der einschlägigen, auch in den USA über markante Positionen verfügenden Klientel dieser neuen Bewegung, erhebt sie aber nicht zu seinem Problem, worin ihm nur zu folgen ist.

Betrachten wir lieber die wichtigsten Annahmen und vor allem Folgerungen Gardners zur Entwicklungspsychologie seiner sieben großen Persönlichkeiten. Ganz vorn steht dabei sein Persönlichkeitsbegriff, den er strikt psychologisch faßt, nicht aber anthropologisch bzw. - die große Mode der letzten Jahre - genetisch. Von den Messungen von Intelligenzquotienten hält er nichts, statt dessen verficht er einen dynamischen Intelligenzbegriff, der sich durch die Lebensbedingungen in Kindheit und Reifezeit, später durch ein geradezu dialektisches Verhältnis zwischen dem Schöpfer und seiner Arbeit formiert. Gardner bringt es auf die Formeln der Beziehung zwischen Kind und Meister, Individuum und Arbeit sowie Individuum und Mitwelt. Dabei sind es mehrere Bestimmungsstücke, die in unterschiedlicher Kombination die wichtigsten intellektuellen Profile schöpferischer Menschen bilden: sprachlich, logisch, personell, räumlich, körperlich, künstlerisch, wissenschaftlich, mathematisch. Daraus ergeben sich verschiedene Vorzugskombinationen bzw. ausgeprägte Schwächen seiner „Probanden“ - so steht bei Freud einer sprachlich-personalen Stärke eine räumlich-musikalische Schwäche gegenüber. Nun erklärt sich daraus gewiß ein methodisches Vorgehen, um kreative Persönlichkeiten zu erforschen, nicht aber die Tatsache der Kreativität selbst. Zur Beantwortung dieser Frage bringt Gardner eine hochinteressante Überlegung ein. Denn seine sieben ausgewählten Persönlichkeiten vermochten, die allgemeinen Signale der Umbruchszeit, in der sie lebten, ganz spezifisch und überraschenderweise irgendwie vergleichbar zu beantworten, sie schöpferisch aufzufangen! Die Merkmale der Umbruchsphase erblickt Gardner im Zusammenbruch bislang geltender Leitbilder in Lebensart, aber auch Kunst und Wissenschaft. Generell gekennzeichnet seien solche Zeiten durch die Aushebelung geltender Konventionen. Alle sieben entwarfen angesichts dieser Situation, die gleichwohl in ihren Wirkungsbereichen gänzlich unterschiedlich war, neue Orientierungsmodelle. Gemeinsam ist ihnen die Rückbesinnung auf elementare Gegebenheiten, die mit den fortgeschrittensten Erkenntnissen abgeprüft wurden. Die jeweils neue Idee ist dann natürlich ganz spezifisch für die diametralen Gebiete, die die ausgewählten Persönlichkeiten vertreten haben.

Die Schlußfolgerungen sind kompakt und 35 Seiten lang, also nicht mit wenigen Sätzen zu referieren - eine Rezension soll ja auch die Leser neugierig machen. Aber unübersehbar ist, daß dort, wo bislang jede Kreativitätstheorie ihre Grenze fand, auch Gardner kapitulieren muß: vor der Frage nämlich, wie die neue Idee, das neue Programm wirklich entsteht. Der Augenblick des Schöpferischen wird von Gardner im Grunde ausgedehnt auf eine ganze Lebensleistung; das Beziehungsgeflecht zwischen Persönlichkeit, Domäne (Fachgebiet) und den Urteilsinstanzen, mit denen sich die hauptsächlichen Kommunikationen vollziehen, wirkt lebenslang. Viele Faktoren sind beteiligt - und so wird es Gardner möglich, aus den sieben „Probanden“ so etwas wie eine ideale kreative Persönlichkeit zu konstruieren, die er „Exemplary Creator“ nennt (S. 429). Das Vergnügen, diese Dame vorgestellt zu bekommen, wird beim kritischen Leser aber ganz sicher durch die unabweisbare skeptische Frage geschmälert, ob mit derlei Illustrationen wirklich mehr als nur ein literarischer Effekt erzielt wird. Fairerweise muß man hinzufügen, daß Gardner das selbst auch einräumt.

Kritisch anzumerken ist eigentlich nur die „Zutat“ des deutschen Verlages, den amerikanischen Titel zu ändern. Gardners Buch heißt im Original „Creating Minds. An anatomy of creativity seen througt the lives of Freud, Einstein, Picasso, Stravinsky, Eliot, Graham and Gandhi“. Eine klare Sache also - es wird kreativem Denken als Gestaltungspotential der jüngeren Geschichte nachgespürt. Der Titel der deutschen Ausgabe aber verspricht Uneinlösbares, suggeriert durch den neuen Titel beim potentiellen Leser, er könne Rezepte erfahren, wie er seinerseits zu kreativerem Denken gelangt. Dafür ist das Buch aber nun wirklich nicht geschrieben, und man erweist dem wissenschaftlichen Anliegen des Autors mit einer solchen Korrektur einen Bärendienst! Gardner durchmustert eine Epoche, legt aber keine Rezepte zum kognitiven „do it yourself“ vor. Es ist eigentlich ein ziemlich billiger Kundenfang, den der berühmte Klett-Cotta-Verlag da auf den Weg gebracht hat und den er doch gar nicht nötig hat. Aber auch ohne daß dieses falsche Versprechen des neuen Titels eingehalten wird, ist jedem, der zu diesem Buch greift, nicht zuletzt auch durch die meisterhafte Übertragung ins Deutsche durch Ute Spengler, ein ungetrübtes und im besten Sinne lehrreiches Lesevergnügen zu prophezeien.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite