Eine Rezension von Horst Wagner

Von Treuhandpolitik und M. Marons Briefträger

Wolfgang Dümcke/Fritz Vilmar (Hrsg.): Kolonialisierung der DDR
Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses.
agenda Verlag, Münster 1996, 360 S.

Das Originellste an diesem Buch, finde ich, ist der Titel zusammen mit dem Titelbild. Es zeigt einen gewichtigen Helmut Kohl neben dem letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, schmächtig und in leicht unterwürfiger Haltung. Das Wort Kolonialisierung als Beschreibung für den Einigungsprozeß werden einige als Provokation, andere als Übertreibung empfinden. Möglichen Einwänden treten Dümcke und Vilmar, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der HUB der eine, Hochschullehrer am Otto-Suhr-Institut der FU der andere, in einer „theoretischen Vorklärung“ entgegen. Kolonialisierung, schreiben sie dort, „umfaßt mehr als die Prozesse der weltweiten europäischen Expansion vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Kolonialisierung bedeutet in ihrem Kern die politische, ökonomische und kulturelle Dominanz eines gesellschaftlichen Systems im Verhältnis zu einem anderen.“ (S. 14) Als entscheidende Kriterien rechnen sie dazu: „... die Zerstörung einer einheimischen Wirtschaftsstruktur, die Ausbeutung von vorhandenen ökonomischen Ressourcen, die soziale Liquidation nicht nur der politischen Elite, sondern auch der Intelligenz eines Landes sowie die Zerstörung der gewachsenen - wie auch immer problematischen - Identität einer Bevölkerung“. (S. 13) Es läßt sich kaum bestreiten, daß all das für die ehemalige DDR infolge ihres Beitritts zur BRD mehr oder weniger zutrifft.

Die theoretische Vorklärung und das ebenfalls von den Herausgebern verfaßte Vorwort wecken hohe Erwartungen. Im Vorwort werden wissenschaftliche Gründlichkeit, kritische Analyse und das Aufzeigen von „Alternativen zur suizidartigen Angliederung Ostdeutschlands“ als Anliegen des Sammelbandes - es handelt sich um Forschungsergebnisse bzw. Teilstudien von 20 Wissenschaftlern - genannt. Leider aber, das sei vorweggenommen, bleibt die kritische Analyse oft in großen Worten und allgemeinen Feststellungen stecken. Das Aufzeigen von Alternativen erscheint unterbelichtet. Im wesentlichen läßt sich alles auf zwei große „Wenn“ zurückführen: Wenn die Mauer nicht so konzeptionslos geöffnet und wenn die D-Mark nicht so übergangslos eingeführt worden wäre, dann ... Was aber statt dessen hätte geschehen bzw. wie die eingetretenen negativen Folgen rasch hätten begrenzt und überwunden werden können - darauf bleiben die Autoren überlegte, nachvollziehbare und auch an den Erfahrungen anderer ehemals sozialistischer Länder meßbare Antworten weitgehend schuldig.

Vorwiegend handelt es sich bei den 22 Studien, deren Auswahl ein bißchen zufällig erscheint und in denen es zuweilen Wiederholungen und Überschneidungen gibt, um zumeist solide Zusammenstellungen von Daten und Fakten, die aber wenig Neues enthalten. Über die Tätigkeit der Treuhand zum Beispiel, auf die in mehreren Kapiteln eingegangen wird, haben andere Autoren (wie Christa Luft) schon interessanter, detailreicher und tiefer schürfend geschrieben. Die beiden Beiträge zu wirtschaftspolitischen Alternativen von Ehlert und Keppler enthalten zwar viele Einzelvorschläge, es fehlen aber m. E. Überlegungen zu gesellschaftspolitischen Realisierungsgrundlagen. Zu den gelungensten Beiträgen zählen für mich solche, die sich mit einem relativ eingegrenzten Thema beschäftigen, wie die zum Wesen und zur Arbeit des Runden Tisches, zur Situation der Frauen vor und nach der „Wende“ oder zu der am Beispiel Mühlfenzl behandelten „Medienpolitik nach Gutsherrenart“. Sehr solide soziologisch begründet und Erkenntnisgewinn bringend die Studie von Markus L. Müller über „Identitätsprobleme der Menschen in der DDR seit 1989/90“. Allerdings: Wenn Müller hier als „Möglichkeiten der Neuorientierung“ den heute als Unternehmensberater tätigen ehemaligen NVA-Offizier nennt, so mag das ja noch einleuchten. Wenn er aber in gleicher Reihe den heute Altphilologie studierenden ehemaligen Briefträger von Monika Maron gleichsam als Beispiel für den „Aufschwung Ost“ hinstellt, wirkt das eher lächerlich. (Oder war es ironisch gemeint?)

Im Nachwort wird, den Erfolg des Buches beweisend, vermerkt, daß wenige Monate nach Erscheinen der ersten schon die (uns vorliegende) dritte Auflage herausgekommen ist. Um so peinlicher, daß auch in dieser mehr oder weniger gravierende sachliche Fehler übersehen wurden. Der seinerzeit viel zitierte Satz: „Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner läuft weg“ wurde am 4. November 1989 nicht, wie auf S. 45/46 behauptet, von Stefan Heym sondern von Christa Wolf gesprochen. Die SED nannte sich nicht am 7. Dezember 1989 in SED-PDS um (S. 68), sondern auf der 2. Tagung des Sonderparteitages am 17. Dezember. Die sehr hochgeschossene, aber bald wieder abgestürzte „Super-Zeitung“ wurde nicht von Springer (S. 286) sondern von Burda herausgebracht. Bleibt zu hoffen, daß bei weiteren Auflagen nicht nur die Korrektur solcher Fehler, sondern auch eine inhaltliche Vertiefung und Aktualisierung erfolgt, um dem wichtigen Anliegen besser gerecht werden zu können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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