Eine Rezension von Helmut Hirsch

Irrtümer verschwinden nie

Friedrich Dieckmann: Der Irrtum des Verschwindens
Zeit- und Ortsbestimmungen.
Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1996, 235 S.

Dies ist auch ein Buch über den Irrtum und über das Verschwinden alter Städte. Zumeist aber handeln die Vorträge und Beiträge, die zum Buch gebündelt wurden, „von Transformationen - sinnreichen und verfehlten, versuchten und versäumten, scheiternden und hoffnungsvollen“. Das weite Feld der Betrachtungen und Exkurse ist fast ausschließlich „jene Ost-Zone der vereinten Republik, die das Staatsgebiet des saxoborussischen Sozialismus war, und der West-Zone, die es induziert hatte, immer Rätsel aufgab, welche die deutsche Einheit noch vermehrt hat“.

Friedrich Dieckmann, zu DDR-Zeiten Dramaturg am Berliner Ensemble und Herausgeber verdienstvoller Bücher über Mozart und Slevogt, Franz Schubert und Richard Wagner, ficht nun mit teils wissenschaftsbeladenen und teils anhaltend grummelnden Vokabeln gegen die Wort- und Gehegewilderer dieser Zeit. Von den Folgen der Einheit und von den Hintergründen, den sonderbaren und nützlichen, der einstigen Spaltung ist hier die Rede.

Friedrich Dieckmann besteht darauf, den Zusammenbruch von 1989 noch immer eine „Revolution“ zu nennen. Dabei nutzten doch nur Leute, die er „Wähler“ nennt, die Gunst einer friedfertigen Schlußrunde, um ein karnevalistisches, dazu noch ein deutsches Revolutiönchen durchzuspielen.

Als Chronist des Nichtverschwindens hält er sich umständlich am plattgedrückten Terminus „neue Länder“ auf. Da er dies kenntnisreich vermittelt, langweilt er nicht. Und dennoch gibt es Unerfreulichkeiten. Nur flüchtig gibt er einen Hinweis auf die „Verschlüsselungstechniken“ der Literaten in der DDR. Das Wort Zensur vermeidend, behauptet er gar: „Verschlüsselungs- und Transformationstechniken sind nichts Neues in der Kunst; sie waren, nicht nur in Weimar, das Salz der Klassik.“ Manchmal kann man das Haar in der Suppe nicht mehr erkennen, weil die ganze Mähne drinnen schwimmt. Und so schwenkt der in diesem Punkt reichlich erfahrungslose Chronist rasch hinüber zum Streik der sächsischen Stahlarbeiter. Nicht erst jetzt, schon immer war ihm klar: „Der Erfahrungsvorsprung der DDR-Bewohner gegenüber dem Westen war immer beträchtlich; er zeigt sich in einer gründlich veränderten Situation aufs neue.“ Noch räumt er ein, jeder müsse seine eigenen Erfahrungen machen, denn „Jeder hat es mit seiner Welt zu tun“, doch das einstige „Ländle“ kann man nicht, wie Fontane es gegenüber der Mark meinte, einfach „hochpuffen“.

Geschieht das trotzdem, wird er Lächler bedienen, so zum Beispiel: „Der Erfahrungsvorsprung der DDR, dieses vorauseilenden der deutschen Staaten, zeigt sich heute als der geschichtliche Vorsprung von Leuten, denen die Hinfälligkeit der Weltordnung auf drastische Weise vor Augen geführt worden ist“, deshalb, hört, hört, Leser aller Länder, „war das Schicksal der DDR-Bevölkerung offenbar die vorauseilende Krise.“

In Stefan Heyms satirischer Erzählung Das Wachsmuth-Syndrom, geschrieben in den siebziger Jahren, rettet Klein-Otto aus Kötzschenbroda die Gattung, weil er als einziger von allen männlichen Wesen dieser Erde nicht zum anderen Geschlecht mutiert. Mir scheint, hier ist das Land, der Ort, wo die Verstiegenheit nie verblüht. Doch „weil die Krise noch nicht weit genug fortgeschritten“, verharren alle im „Schwebezustand zwischen Gestern und Morgen“. (Dieckmann)

Erstaunlich, was Dieckmann alles an der DDR noch im Nachhinein zu erkennen vermag, sie war „der Prügelknabe aller europäischen Entwicklungen, ob sie im ost- oder westeuropäischen Raum vor sich gingen.“ Daß man einem so schwammigen Wort wie Totalitarismus nicht mit ernsthaften Debatten begegnen kann, scheint längst entschieden. Dennoch widmet sich der Autor dieses Buches dem „Schlag-, dem Niederschlagwort totalitär“ ausgiebig. Dieckmanns Unmut richtet sich gegen den Mißbrauch, gegen die anmaßenden Wortfechter dieser Vokabel. Daß er selbst bei Gelegenheit der Verhüllung des Reichstages durch Christo auf dieses Un-Wort zurückkommt, ist erstaunlich. Denn eine Lehre dieser Aktion von „Gewandmeisterei“ „ist wesentlich antitotalitär, sie lautet: Transfiguration statt Liquidation“. Dieckmanns Benennungseifer ist nicht nur groß, groß sind auch die Löcher in diesem Wertteppich. Christos Leistung sei „eine Affirmation seiner selbst und damit zugleich die festlich-feierliche Selbstbestätigung der kunstreich negierten Sozietät“.

Noch nicht genug, es wird immer heftiger: „Auf silbrig-heitere Weise wird hier der immanent totalitäre, der total partikulare Charakter der Moderne monumental.“

Es gibt allerdings auch lesbare und lesenswerte Beiträge in diesem Band. So die Stadtgänge durch Dresden und Berlin. Man spürt es doch noch, hier ist der Mann zu Hause. Doch sobald es ins Land geht, beginnen die kuriosen Verrenkungen. So schlägt er gar vor, „Österland für die östliche Zone der vereinigten Republik“ zu sagen. Hierbei beruft er sich auf zwei Radierungen von Horst Hussel, die in diesem Buch versteckt wirken. Der witzige Graphiker schrieb auf seine beiden Bundesadler aber „Oesterland“. Dieckmann nun will, daß es nur ein einziges und möglichst anhaltend einzigartiges „Zonen-Österland“ gebe. Leider ist dieses Wort längst besetzt durch den zu DDR-Zeiten kaum erwähnten historisch-geographischen Begriff Osterland, ein vom Vogtland abwärts bis weit hinein ins Ostthüringische und Westsächsische reichende Gebiet, in dem seit eh und je der Wortspielwitz blüht.

Deshalb ganz zum Schluß: „Der Irrtum des Verschwindens“ kann vom Leser auch ins Gegenteil verkehrt werden: Das Verschwinden des Irrtums.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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