Wiedergelesen von Tina Kreuzmann

Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter

Verlag Volk und Welt, Berlin 1965, S.

Es war Riccardo, der meine Freunde und mich besonders bewegte. Vielleicht lag es am gemeinsamen Alter, das uns mit dem jungen Pater verband, vielleicht war es die emotionale Heftigkeit, mit der er agiert, vielleicht war es sein moralischer Rigorismus, der uns in seinen Bann zog. Wahrscheinlich war es alles zusammen.

Natürlich diskutierten wir damals an dem kleinen Stadttheater die konfliktreiche Persönlichkeit Gersteins, stritten bis auf's Messer über die Rolle der Kirche und verstanden den Doktor als Inkarnation des Bösen (Luzifer gleich - aber auch das wäre noch zuviel der Ehre). Kaum - oder die Erinnerung trügt schwer - setzten wir uns mit den tiefgehenden Analysen zur profitablen Komplizenschaft der deutschen Wirtschaftseliten mit dem NS-System auseinander (benannt werden u.a. Krupp und Flick, IG Farben, Volkswagenwerk). Damit wurden wir ohnehin per „verordneten Antifaschismus“ überschüttet: die polit-ökonomischen Wurzeln des Nationalsozialismus, Krieg und Mord und Okkupation als Geschäft, die dafür und daraus entstandene, über das „3.Reich“ hinaus haltbare Allianz der Täter aus allen - inbesondere aber doch der „besseren“ Kreise.Wir kannten die Fakten und noch mehr die Argumentationen dazu. Wie gesellschaftsfähig und umstandslos integriert jene Kräfte tatsächlich waren,habe ich nach der Wende gemerkt, als mir ein Papier aus dem Landtag Schleswig-Holstein in die Hände kam,das mit statistischer Genauigkeit den raschen, ungehinderten Wiederaufstieg von NS-Tätern, Einfluß und Entscheidungsträgerschaft alter Seilschaften in neuen Positionen belegt.Ein Papier mithin, in dem ich, wär die West-Herkunft nicht eindeutig gewesen, ein parteiliches Agitations-und Propagandatraktat zur Diffamierung der FDGO vermutet hätte.Es war kein Dokument aus den 40er oder 50er Jahren,sondern ein höchst aktuelles Papier aus den 80igern.Die Allianzen haben sich gehalten, und wer dazumal kräftig einzahlte, sich nach der Zeitenwende 45 auch einigermaßen klug verhielt, der blieb ebenfalls am Ruder.

Doch wie gesagt, damals ( das Stück erschien 1965 im Verlag Volk und Welt) entstand der stärkste Eindruck aus dem konsequenten Handeln des Paters Riccardo, der an Stelle eines verfolgten Juden freiwillig nach Auschwitz geht und dort stirbt. Sein Aufbegehren und sein Tod - ein verzweifeltes Signal gegen die Normalität des Verbrechens, gegen das Schweigen seiner Kirche. Letztmöglicher Appell: Der Opfertod. Wie ihn der Arzt Dr. Korcak wählte, der die ihm anvertrauten Kinder in die Gaskammern begleitete. Für den sich der polnische Pater Max Kolbe entschied, als er für den Häftling Nr.5659 (jener Franciszek Gajowniczek überlebte) in den Hungerbunker ging. Den der Berliner Dompropst Lichtenberg nach seiner Verurteilung bei der Gestapo beantragte: Er wollte in das Ghetto Lodz geschickt werden, um inmitten der jüdischen Häftlinge für wahre Nächstenliebe zu zeugen und um eine öffentliche Stellungnahme der katholischen Kirche gegen die Judenverfolgung zu erzwingen. Die Gestapo lehnte ab.Bernhard Lichtenberg starb am 5. November 1943. 52 Jahre später, 1995, wurde er von Rom seliggesprochen, Pater Kolbes Seligsprechung erfolgte 1948. Riccardos bedingungsloses Beharren auf die Erfüllung sittlicher Forderungen betrifft nicht allein die Kirche. Sein Denken und Tun führt weit über religiöse Grenzen und Gebote, hin zu der Notwendigkeit, menschenwürdig zu handeln. Nicht frei von Angst und Feigheit, auch verführbar durch grobe Beschönigung und sanfte Zwänge - letztlich aber doch frei in der individuellen Entscheidung. Die Bestand haben muß - ob vor Gottes Angesicht oder vor dem eigenen oder vor der Geschichte.

„Hochhuths Stück Der Stellvertreter ist einer der wenigen wesentlichen Beiträge zur Bewältigung der Vergangenheit. Es nennt schonungslos die Dinge beim Namen,es zeigt, daß eine Geschichte, die mit dem Blut von Millionen Unschuldiger geschrieben wurde, niemals verjähren kann; es teilt den Schuldigen ihr Maß an Schuld zu; es erinnert alle Beteiligten daran, daß sie sich entscheiden konnten und daß sie sich entschieden haben, auch dann, wenn sie sich nicht entschieden“ schreibt Erwin Piscator im Vorwort zum Stück, das 1961 bei Rowohlt herauskam, und am 20.Februar des Jahres in der Inszenierung von Piscator im Theater am Kurfürstendamm uraufgeführt wurde.

Selten verursachte ein Theaterstück solch internationales Aufsehen, derart politischen Wirbel wie der Stellvertreter. Rolf Hochhuth, einer der erfolgreichsten und zugleich umstrittensten Dramatiker der heutigen Bühnenwelt, hatte das vermutlich einflußreichste Machtzentrum frontal angegriffen: Der katholischen Kirche, besonders aber Gottes Stellvertreter auf Erden, dem Papst, warf er eklatantes moralisches Versagen vor - macht diesen Vorwurf fest in einer beeindruckenden dramatischen Umformung des wissenschaftlich erarbeiteten Tatsachenmaterials über das Schweigen des Papstes Pius XII. zu Deportation und Ermordung der europäischen Juden. Die Bühne wird zur Tribüne. Dem Theater als öffentlichem Raum fällt wieder eine Aufgabe zu.Der Autor provozierte - was bis dato auch und besonders in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft kaum ein Thema war -eine erbittert und vehement geführte Debatte zur NS-Vergangenheit, zu historischer Verantwortung und persönlicher Schuld, zu Machtkalkül und Humanitätsverlust moralischer Instanzen - wie sie die katholische Kirche und ihr Nukleus Vatikan nun mal vom eigenen Anspruch her sind.

34 Jahre nach der wirkungsreichen Uraufführung, mit dem Wissen um den damaligen Aufruhr, habe ich das Stück mit höchster Spannung wiedergelesen. Der Blick zurück schärft den Blick für Heutiges, und umgekehrt. Sofort fällt einem die Goldhagen-Debatte ein, und am „Stellvertreter“ die nach wie vor gültigen Fragestellungen auf. Die Idee zu dem Schauspiel kam Rolf Hochhuth, als er Publikationen über das NS-Regime und über die Verfolgung der Juden lektorierte. Im Herbst 1959 ließ er sich beurlauben, skizzierte in Rom den „Stellvertreter“ und beendete das Stück im Frühjahr 1961. Da ist er 29 Jahre alt.

Hochhuth war auf einen Brief des deutschen Botschafters beim Vatikan, Ernst von Weizsäcker, gestoßen, der 1943 dem NS-Außenministerium folgende Information übermittelte:“ Der Papst hat sich, obwohl dem Vernehmen nach von verschiedenen Seiten bestürmt, zu keiner demonstrativen Äußerung gegen den Abtransport der Juden aus Rom hinreißen lassen.“

Sieben Jahre später verhält sich Eminenz völlig anders.

In dem Buch Was sie taten - was sie wurden beschreibt Ernst Klee die Organisationen, mit deren Hilfe NS-Verbrechern die Flucht ins Ausland gelang, oft unter der schützenden Hand höchster Kirchenvertreter. Vom Verfassungsschutz wurde eine sogenannte „vatikanische Hilfslinie“ ausgemacht, die angeblich 1949 stillgelegt worden sei, mit der jedoch Klaus Barbie noch 1951 nach Bolivien entkam. Die Rat-Line. Der Weg der Ratten. Eine ähnliche Organisation, die „Stille Hilfe“ widmete sich unter der Leitung einer Prinzessin Helene von Isenburg, die sich selbst als „Mutter Elisabeth“ bezeichnet, der Rehabilitierung und Unterstützung verurteilter NS-Täter, von denen etliche mit Todesurteil in der Festung Landsberg am Lech einsaßen. Diesem unerträglichen Zustand abzuhelfen schrieb die Prinzessin am 4.November 1950 „in der tiefsten Not um unsere zum Tode Verurteilten“ dem Heiligen Vater ( es ist Pius XII.): „Vater der Christenheit: Hilf uns! (...)Fünf Jahre nach Kriegsende Männer an den Galgen zu führen, deren Verurteilung zum größten Teil nachgewiesene Fehlurteile sind, widerspricht jedem Recht.“ Gemeint ist u.a. SS-Gruppenführer Ohlendorf, verantwortlich für die Tötung von 90 000 Menschen. Die Antwort auf das dringliche Schreiben erfolgte umgehend. „Rom, den 10. November 1950“ - es wird mitgeteilt, daß der Heilige Vater unverzüglich in Kenntnis gesetzt wurde und „daß von hier aus alles getan wird“. Auch weiterhin werde man - wie seit Jahren - die Angelegenheit mit wachsamen Auge verfolgen. Zwar betroffen, doch nicht ganz so eilig und wachsam zeigt sich derselbe Pius XII., gegenüber der Judenverfolgung. Sein Auftritt im 4.Akt des Stückes zeigt ihn als „von brennender Sorge um Unsere Fabriken erfüllt. Auch Kraftwerke, Bahnhöfe, Talsperren, jeder Betrieb fordern gebieterisch Schutz“. Es geht um Besitz und Kapital. Pius XII.- ein Geschäftsführer, der mit Umsicht und Sachkunde Reichtum schützt und mehrt. Der Papst ist ungehalten. Fielen doch auf Rüstungsbetriebe amerikanische Bomben. Dagegen „Die Deutschen haben jedes Buch und jedes Pergament von Monte Cassino in die Engelsburg gerettet“, „um so taktloser“ stellt er fest, daß sie „die Juden jetzt auch aus Rom verschleppen. Haben Sie davon gehört, Graf - Eminenz? Es ist sehr ungezogen!“ Text als auch szenische Erläuterungen umreißen Interessenlage und politische Prioritäten -dieser Papst wird nicht um Gott und nicht um die Welt, und schon garnicht der Juden wegen, Herrn Hitler ein entschiedenes Veto aussprechen. Hitler ist der Mann fürs Grobe, „Hitler allein, lieber Graf, verteidigt jetzt Europa,“ gemeint ist der rote Sturm aus Rußland, der abgefangen werden muß. Auch deshalb, so der Papst, sollte der Westen Hitler Pardon gewähren, solange er im Osten nützlich ist. „Die Staatsräson verbietet, Herrn Hitler als Banditen anzuprangern, er muß verhandlungswürdig bleiben. Wir haben keine Wahl.“ Und der Massenmord geht weiter. Riccardos Kampf ist aussichtslos. Er heftet sich den gelben Stern an die Soutane - an anderer Stelle spricht er das Urteil über den Stellvertreter Christi: Wer schweigt und seine Stimme nicht zu einem Fluch erhebt, „der noch den letzten Menschen dieser Erde erschauern läßt-: ein solcher Papst ist ...ein Verbrecher.“

Von der Frage her, wie sich der Papst, „der prominenteste Christ überhaupt, gegenüber dieser umfassendsten Menschenjagd, von der die Weltgeschichte weiß“ verhalten habe,entwickelt Hochhuth die Verflechtungen individuellen Lebens mit geschichtlichen Ereignissen. Er entwirft ein Panorama menschlicher Verhaltensweisen, quasi eine Checkliste (un)moralischer Positionen sowie ihrer Bedingungen, unter denen sie verkommen oder Bestand haben.Es ist ein gnadenloses Stück. Läßt keine Ausflüchte zu: Es gibt immer zwei Entscheidungsmöglichkeiten. Zwischen diesen Polen bewegen sich die Personen des Stückes, daraus entstehen beklemmende Konflikte, ergeben sich bestürzende Sichten auf politisch-geschichtliche Tatbestände. Über das Verhältnis zwischen Werk und Wirklichkeit schreibt Hochhuth: „Wer die von Leichen und Trümmern bedeckten Rollbahnen geschichtlicher Ereignisse zurückverfolgt, wer die widerspruchsvollen, die selbstgefälligen oder verstörten Aussagen der Sieger und Opfer abwägt, der erfährt bei jedem noch so bescheidenen Versuch, durch den Schutt und die Zufälligkeiten der sogenannten historischen Tatsachen zur Wahrheit, zum Symbol vorzustoßen, daß der Dramatiker (nach Schiller) kein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet, daß sein Werk in allen seinen Teilen ideell sein muß, wenn es als Ganzes Realität haben soll“. Diese Realität, die nicht Plagiat der Wirklichkeit ist, sondern eben ihre künstlerische Entsprechung, macht das Lesen des Stückes zur Anstrengung. Es ist kein Vergnügen, leicht und eingängig. Es ist eine fortwährende Konfrontation mit Unerträglichem: Dem Zynismus der Macht und der Ohnmacht des Einzelnen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite