Wiedergelesen von Gudrun Schmidt

Brigitte Reimann: Ankunft im Alltag

Verlag Neues Leben, Berlin 1961, 282 S.

Das Exemplar, das bei mir im Regal steht, sieht abgegriffen aus. Es muß durch viele Hände gegangen sein. Eine Freundin hatte es mir geschenkt in einer Ausgabe der Jugendbuchgemeinschaft. In der Widmung war angedeutet, daß es über die „Probleme, die die Autorin darlegt,“ sicher viel zu reden gibt. Wie Recha, Nikolaus und Curt - die Hauptgestalten der Erzählung - absolvierten wir damals nach dem Abi auch ein praktisches Jahr im Betrieb. In Cottbus, nur wenige Kilometer von Brigitte Reimanns Hoy, der Stadt Hoyerswerda und dem Kombinat „Schwarze Pumpe“ entfernt. Begierig verfolgten wir ihre Äußerungen bei Buchdiskussionen, auf Konferenzen, in Interviews. Brigitte Reimann war für uns so etwas wie eine „Leitfigur“, eine Vertraute geworden. Da waren andere Töne als in den pädagogisch wertvollen Jugendbüchern mit ihren langweiligen positiven Helden. Hier schrieb eine schnörkellos und ohne erhobenen Zeigefinger über junge Leute und ihre Sicht der Dinge.

Wir wurden erwachsener. Und später verdrängten die Geschwister und Franziska Linkerhand die drei Gefährten aus der Ankunftszeit. Würde sich jetzt beim Wiederlesen die alte Begeisterung wieder einstellen oder blieb nur der Eindruck einer gut beobachteten Betriebsreportage? Mitnichten! Auch heute wirkt die Erzählung wie aus einem Guß, flott und mit leichter Hand geschrieben.

„Die drei waren am Abend mit demselben Zug gekommen, aber sie kannten sich noch nicht, und nachdem sie auf der kleinen Station ausgestiegen waren, stand jeder für sich allein und mit einem niederdrückenden Gefühl von Fremdheit auf dem Bahnsteig.“ Sofort ist man in das Geschehen einbezogen, fühlt sich als Leser gewissermaßen eingeladen, mit den drei Neuankömmlingen auf Entdeckungen zu gehen. Recha, Curt und Nikolaus - jeder hat andere Motive, nach bestandenem Abitur sich den Wind der Praxis um die Nase wehen zu lassen. Curt mit C, der verwöhnte, großspurige, clevere Sohn eines Werkleiters und Antifaschisten, will sich vor der Armee drücken. Recha, das „Mahagonimädchen“ , die mit ihren dunklen Augen und der vorspringenden Nase wie die junge Rosa Luxemburg aussieht, ist im Waisenhaus bzw. Internat groß geworden. Statt gleich zu studieren, hat sie sich für den unbequemen Weg entschieden, um Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erproben. Den ruhigen, versponnenen, unbeholfenen Nikolaus, Sohn eins Buchdruckers, lockt die Romantik der Großbaustelle. Er sieht sie mit den Augen des künftigen Malers. Er will später an einer Kunsthochschule studieren. „Es möchte sein, eure Reifeprüfung fängt heute erst an“, begrüßt sie Meister Hamann im Betrieb.

Konfrontation mit dem Leben heißt immer auch, Abschied nehmen von Illusionen. Die Wirklichkeit der „Schwarzen Pumpe“, dem „Messerstecher-Kombinat“, ist alles andere als ideal. Die Arbeit ist anstrengend und dreckig, die Stadt noch unfertig und in der Monotonie ihrer Neubauten trostlos. Die Abenteuer sind andere als in Sagen überlieferte von Jungsiegfried und Parzival. Heldentum vollzieht sich hier stiller, unspektakulär, zum Beispiel in einer nächtlichen Sonderschicht. Kein Feierabend, powern, damit das Werk eine Anlage vorzeitig in Betrieb nehmen kann. „Es ist die Alltäglichkeit der Geschichte ... es war gar nicht dramatisch oder romantisch oder sonst was, und ganz bestimmt hat sich keiner als Held gefühlt,“ findet Nikolaus am Morgen danach. „Sie arbeiten die Nacht durch und schenken dem Staat einige tausend Tonnen guter Kohle, und hinterher gehen sie ein Bier trinken und unterhalten sich über tropfende Wasserhähne ...“ Er und Recha (Curt hat sich gedrückt) sind völlig geschafft, aber sie empfinden auch ein Gefühl von Sieg , „als hätte man was Besonderes getan ...“ Wie die drei ihre Konflikte - natürlich sind die Jungs sofort für Recha entflammt - miteinander austragen und wie sie sich allmählich zurechtfinden, neue Erfahrungen gewinnen, das liest sich auch heute noch spannend und unverbraucht.

Werkhallenromantik, Produktionsliteratur? Nicht, wenn man so schreiben kann, wie die Reimann. Sie verklärt und beschönigt nichts. Das größte Braunkohlenveredlungswerk der Welt entsteht in „Schwarze Pumpe.“ „Wir machen Geschichte hier ... wenn wir selbst es auch manchmal vergessen“, so Meister Hamann. Sagt's und arbeitet weiter. Mit feinem Gespür für diese „Alltäglichkeit der Geschichte“ entsteht ein vielschichtiges, lebensvolles Porträt der Brigade. Es ist eine bunt zusammengewürfelte Truppe - Familienväter und Glücksritter, gute Facharbeiter und Analphabeten, uneigennützige Tüftler und Leute, die vergessen haben, daß sie auf der „linken Seite außer dem Platz für die Brieftasche auch noch ein Herz haben ...“

Überall und immer zu Gange Meister Hamann, den die drei Neuen „Napoleon“ nennen. Er hält die Brigade zusammen. Mit Güte und Strenge, mit Klugheit und List. Kein Draufgänger wie später der Balla in Erik Neutschs Spur der Steine, aber ihm im Wesen verwandt, nur reifer und lebenserfahrener. Kein Held auf dem Sockel, aber einer, den man als Vorbild akzeptiert und mit dem man gern zu tun hätte. Menschlich auch seine Schwäche. Gelegentlich säuft er. Nur so kann er den Schmerz um den Verlust seiner Familie betäuben.

1960, ein Jahr bevor die Erzählung erschien, war die siebenundzwanzigjährge Brigitte Reimann mit ihrem Mann und Schriftstellerkollegen Siegfried Pitschmann vom beschaulichen, kleinstädtischen Burg nach Hoyerswerda gezogen. Mit einigen Erzählungen (Die Frau am Pranger, Das Geständnis) und Hörspielen hatte sie bereits Anerkennung gefunden. Fast euphorisch schreibt sie im September 1959 nach einem ersten Besuch: „H. ist überwältigend, das Kombinat von einer Großartigkeit, das ich den ganzen Tag wie besoffen herumlief ... H. und das Kombinat werden noch oft genug - falls dies literarisch überhaupt zu bewältigen ist - in Erzählungen oder sogar einem Roman auftauchen.“

Brigitte Reimann, neugierig auf Menschen und das Neue im Land, arbeitete in einer Brigade mit, betreute den Zirkel schreibender Arbeiter. Aber ihre Ankunft war - ähnlich der ihrer Helden - ernüchternd. „ ... es ein Ding, für einen Tag schwärmerisch besichtigend durch die von Balken und Bauschutt unebenen Straßen zu wandeln, und es ist ein ander Ding, selbst in dieser Stadt zu wohnen ...“ Über Auseinandersetzungen und Zweifel geben Tagebuchnotizen Auskunft. „Verfluche das Nest und die Idee, hierherzukommen - und weiß dabei, daß ich übermorgen oder nächste Woche wieder beglückt sein werde, durch irgendein nichtiges Erlebnis, die Begegnung mit einem Menschen, der mir gefällt ... Dieses herrliche Kombinat - und die Enge in den Köpfen ... ein Jahrzehnt der Widerprüche ... Verflucht wenig Zeit zum Schreiben ... Wir haben kein Privatleben mehr. Alles dreht sich um das Kombinat und um die Arbeit ...“

Mit Abstand, im März 1972, schon von der tödlichen Krankheit gezeichnet, schreibt sie ihrer Jugendfreundin Veralore Schwirtz von Neubrandenburg, wo sie seit 1968 lebt, über diese Jahre „... wir haben das Wachsen einer Stadt miterlebt, ein aufregendes Abenteuer, wilde Zeit, Goldgräberzeit, wie man's nannte, und haben im Kombinat gearbeitet ... aber mir ist es bekommen, und ich habe während der Zeit ein Buch geschrieben, durch das ich plötzlich, auf geradezu bestürzende Weise, bekannt geworden bin - ein Glücksfall, es kam halt zur rechten Zeit ...“

Dieses Buch war Ankunft im Alltag, nach dem später eine ganze Literaturströmung jener Jahre genannt wurde.

Dabei schien dieser Erfolg durchaus nicht selbstverständlich. „Ich bin gewappnet für unerquickliche Diskussionen; der Knabe Curt wird einigen Leuten Kummer machen ...“ schreibt sie im Juli 1961 nach dem Erscheinen des Buches in ihr Tagebuch. Curt, der anders redet als er denkt, auf schnelles Geld und Karriere aus ist, ohne dafür viel zu leisten, aber hinter dessen Zynismus und Arroganz auch Sehnsucht nach Geborgenheit und menschlicher Wärme steckt, die er im Elternhaus nicht mehr findet. Ein Außenseiter, der nicht in die „heile Welt“ paßt? Die FDJ-Zeitung „Junge Welt“ lehnt seinetwegen den Vorabdruck ab. (Die spätere Rezension allerdings war zustimmend.) Die NBI springt in die Bresche und druckt vorab. Das „Neue Deutschland“ findet den Dreieckskonflikt konstruiert. Der „Sonntag“, die kulturpolitische Wochenzeitung, prophezeit, daß dieses Buch „keinen jugendlichen Leser hinter den Ofen hervorlocken“ würde. Es sei nicht gelungen, lebensechte Figuren zu schaffen. Vor allem die hübsche, kapriziöse Recha, die sich sowohl zu Curt als auch zu Nikolaus hingezogen fühlt, erregt wegen dieses „Schwankens“ das Mißfallen des jungen Rezensenten. Er gesteht, direkt Angst zu bekommen, „einmal so einer zu begegnen.“ Anders die Leser. Sie sind begeistert, schreiben zustimmende Briefe, reden sich die Köpfe heiß um Verantwortung, Ehrlichkeit, Wirklichkeitsnähe... Die Bibliotheken melden hohe Ausleihziffern. Im „Sonntag“ mischt sich Anna Seghers ein. Sie zollt der jungen Autorin Respekt, da ist eine, die angefangen hat, „ernst zu arbeiten, sie sieht sich um, sie erfindet.“ Dieses Lob der „angebetenen, der großen Anna Seghers“ ist für die verletzbare Brigitte Reimann Balsam. „Das war mir ... mehr als ein Dutzend liebenswürdigster Lobsprüche, mein Ehrgeiz, etwas zu leisten, stieg für einen Tag ins ungemessene“ vertraut sie ihrem Tagebuch am 11. Februar 1962 an.

Zu gern hätten wir damals gewußt, wie es mit Recha, Curt und Nikolaus weiter geht. Auch Brigitte Reimann hatte an eine Fortsetzung gedacht, wollte die Geschichte der drei weiterverfolgen „... ihre Erlebnisse im Kombinat, ihren Weg auf die Universitäten und natürlich auch ihre Liebesgeschichte ... Ich stelle mir vor, daß es gerade mit dem biederen Nikolaus Schwierigkeiten geben wird“ schreibt sie in der „Tribüne“ vom 28. 4. 1962.

Ahnte die unbequeme, kritische Schriftstellerin wie beschwerlich es für Künstler wird, die Gegenwart zu gestalten?

Ankunftsliteratur. Entstanden in der Aufbauphase der DDR, in der alles noch möglich schien, die Welt besser und gerechter einzurichten. „Achtung! Alles auf Anfang!“ Aber das gibt`s nur im Film.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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