Analysen · Berichte · Gespräche · Essays

Burga Kalinowski

Erinnern braucht ein Maß

Gedanken und Bücher zu einem Datum

Es war immer derselbe Traum.
Sie steht auf dem Marktplatz der Stadt. Sie will ins Rathaus gehen - aber der Platz ist mit Leichen gepflastert. Überall. Wohin sie auch ginge ... Sie kann keinen Schritt mehr tun.
Jede Nacht kam dieser Traum.
Da ist sie aus Deutschland weggegangen. Versuch zu leben - nach Auschwitz.

Die Geschichte dieser Frau ist eine von vielen in der deutschen Geschichte unseres Jahrhunderts - sie gehört zu den mörderischen Belegen für den Verlust der humanen Orientierung eines Volkes. Seit einem Jahre nun soll ein Tag daran erinnern, sich zu erinnern. Wer soll was erinnern? Deutsche Gedenktage sind gemeinhin Reanimationen gehabter Größe und siegreicher Kämpfe. Anders der 27. Januar. Der Tag, an dem im Winter 1945 Soldaten der Roten Armee das deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit haben. Der Tag markiert - über das Kalendarische hinaus - einen zivilisatorischen Endpunkt in der Geschichte überhaupt. Erinnern daran, das Nicht-Vergessen, daß es so war und möglich und gemacht wurde - das erst könnte dieses Datum vom beschlossenen zum wirklichen Gedenktag für die Opfer des NS-Regimes wandeln. Darunter - unter einer nationalen Selbstbefragung in allen Zeitformen - ist der Gedenktag nicht zu haben. Es sei denn als wohlfeile Geste. Die bitter den Überlebenden wird und die Opfer ein zweites Mal mordet.

Schnell und spurlos versinken Mensch und Zeiten im Strom des Vergessens. Noch spiegelt seine Oberfläche Konturen der Erinnerung - doch auch sie verlieren sich eines Tages im trägen Wellenschlag der Bequemlichkeit.

Wer wissen will, kann wissen: 52 Jahre nach dem Ende der Barbarei stehen ganze Bibliotheken zur Verfügung. Sachbücher, Berichte von Überlebenden, Analysen und Dokumentationen, ästhetisch-künstlerische Annäherungen, Archive, Gedenk- und Forschungsstätten - die Bewahrung und Weitergabe des historischen Gedächtnisses ist ein komplexer kollektiver und individueller Vorgang. Ein Vorgang, der, wenn er denn stattfindet, ohne Ende ist, mit Scham beladen, begleitet von bohrenden Fragen. Und immer wieder Fassungslosigkeit.

In der Reihe „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ liegt vom Zambon Verlag Frankfurt/M. der Bildband Abels Gesichter - Auschwitz vor.

Abels Gesichter.

Abel, der erschlagen wurde. Der erste Mord. Seitdem kein Ende. Auschwitz eine Mordfabrik. Eine deutsche - und deshalb sehr gründlich. In einem Vorwort schreiben Teresa und Henryk Swiebocki vom Auschwitz-Museum: „Niemals zuvor sind in der Geschichte der Menschheit in so kurzer Zeit, auf so engem Raum und mit solch bürokratischer Sorgfalt geplant und vorbereitet so viele Menschen ermordet worden.“ 1500000. Allein in Auschwitz.

Abels Gesichter.

Auf den ersten vier Seiten private Fotos der Häftlinge, die unter der persönlichen Habe der Opfer gefunden worden sind. 24 Fotos. Liebevoll gestellte Familiengruppen, Baby auf Bärenfell, Junge und Mädchen einer Wandergruppe, Vater, Mutter und drei Kinder, zwei Liebespaare auf einer Bank, vier Freundinnen vor der Haustür, eine Schulklasse auf Ausflug, eine Beerdigung, ein Hochzeitspaar.

Momentaufnahmen des Lebens.

Ganz normale Leute. Dicke, dünne, dumme, kluge, hübsche, häßliche, lachlustige, schlechtgelaunte, mutige und feige, großzügige, pinglige, kokette, schüchterne. Sehr normale Leute. Einige Seiten weiter sind sie Nummern. Für den Tod registriert.

Abels Gesichter.

Seite für Seite Fotos von Häftlingen zur Identifizierung. Begonnen wurde damit Anfang 1941, dann wegen Materialmangels eingeschränkt, seit Mitte 1943 fast nur noch deutsche Häftlinge aufgenommen. Von sowjetischen Kriegsgefangenen, sogenannten Erziehungshäftlingen, Sinti und Roma sowie von den Juden, die 1942 nach den Richtlinien der Wannsee-Konferenz zur „Endlösung“ in Massentransporten im Lager ankamen, gibt es keine Bilder. Es waren zu viele. Sie kamen sofort in die Gaskammer. Für sie die leeren Seiten im Bildband.

Abels Gesichter.

Foto Seite 93. Unmittelbar nach der Selektion: Frauen und Kinder auf dem Mordweg. „Die kleinen Kinder jammerten meist ob des Ungewohnten beim Ausziehen, doch wenn die Mütter gut zuredeten, oder die vom Sonderkommando, beruhigten sie sich und gingen spielend, sich gegenseitig neckend, ein Spielzeug im Arm, in die Kammern.“ Und: „Ich habe auch beobachtet, daß Frauen, die ahnten, was ihnen bevorstand, mit Todesangst in den Augen die Kraft noch aufbrachten, mit ihren Kindern zu scherzen (...)“ (Aus den Erinnerungen von Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz 1940-1943). Auf dem Gelände von Auschwitz-Birkenau fand man 115063 Kleidungsstücke für Säuglinge und Kinder bis zu 10 Jahren.

Abels Gesichter.

27. Januar 1945. Die Soldaten der Roten Armee finden nur noch 7000 Überlebende vor, unter ihnen etwa 180 Kinder.

Verschollenes Leben.

Trauerndes Erinnern daran im Land der Täter, Mitläufer und Zuschauer (auf diese Charakterisierung müßte man sich schon einlassen, wenn sie ernst genommen werden soll, die Rhetorik der Betroffenheit) - wird zum Requisit eines vorgeblichen historischen Bewußtseins. Es kommt kaum als emotionale, bestenfalls als rationale Bezugsgröße im Koordinatensystem der Werte vor.

Der 27. Januar - ein gefährlicher Schleichweg zur Selbstentschuldung: Man stellt sich feierlich - noch - hinter die Schatten der Toten. Es ist hierzulande eine Minderheit, denen dieser Tag das bedeutet, was er an Faktischem und Symbolik in sich trägt.

Absehbar das politische Schnäppchen, mit dem deutsche Vergeßlichkeit dieses Datum okkupieren wird. Die Reaktionen auf Goldhagens Publikation gerieten doch weiß Gott nicht nur wegen durchaus diskutabler wissenschaftlicher Differenzen derart heftig - das intellektuelle Zeter und Mordio hub doch an, weil der Mann den wunden Punkt getroffen hat. Er fragte einfach, wie das geschehen konnte. Er suchte nach Ursachen, den schlechten Gründen. Er fand (s)eine Antwort. Hätte er „nur“ schlimmere Zahlen, neue Mordbelege mit exaktem Quellennachweis vorgebracht - man hätte in der Sache miteinander reden können. Ganz PC. Aber was sollen die Kategorien Moral und Ethik, altmodische Begriffe wie Gut und Böse. Das sollte doch besser außen vor bleiben. Das wurde - natürlich - von der Mehrheit als Vorwurf begriffen und entsprechend aufgeregt zurückgewiesen. Eine Zumutung, die nicht annehmbar war. Vielleicht, weil die Geschichtsbilder produzierenden Experten und ihre willigen Konsumenten im Stillen das ramponierte Schild der nationalen Ehre putzen. Andere - und es sind so wenige wahrlich nicht - blasen derweil zum Angriff auf die „Nestbeschmutzer“ im eigenen Land. Die wissenschaftlich fundierte Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht“ (ab 24. Februar in München) klärt die Fronten, formiert die Kräfte, die Reihen werden fest geschlossen. Durch die Verlautbarungen diverser Verbände zur Pflege militärischen Brauchtums wabert das Wort von der Ehre und der Treue.

Die haben nichts begriffen.

Was nicht sonderlich verwundern muß. Können sich doch bis heute bewährte Mörder ihren Lebensabend mit einem staatlichen Zubrot verschönern. Kriegsopferstatus - erworben mit einem Beinschuß etwa, vierzehn Tage, nachdem man mit der Liquidierung der Menschen und des Ortes Oradour seinen soldatischen Beitrag zum Endsieg geleistet hatte. Oder als Leutnant in Auschwitz seine Pflicht tat - wie der Verfasser der „Auschwitzlüge“, der mit einem Salär aus der Kriegsopferkasse entschädigt wurde. Ja nun, die Gesetze sind halt so. Und daß Freislers Witwe für ihren toten Mann Staatsgelder bezieht, ist nur logisch. Schließlich hätte der Mann nach dem verlorenen Krieg im demokratischen Deutschland eine glänzende Juristenkarriere gemacht. Keine Frage, diese amtliche Begründung überzeugt.

Gegen die Traditionspflege der auf diesem Humus nachgewachsenen „Kameraden“ (Jungvolk gewissermaßen), die im rechtsradikalen Spektrum nisten, die Fahne hochhalten und Deutschlands schlechten Ruf ebenso - dagegen brachte der Verlag an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr, im vergangenen Jahr das Buch von Markus Tiedemann In Auschwitz wurde niemand vergast! heraus, 60 rechtsradikale Lügen und wie man sie widerlegt. Der Titelbezug zum neonazistischen Bestseller (s. o.) ist beabsichtigt. Mit Fakten gegen die Lüge - der Versuch ist so ehrenwert wie immer wieder zu machen. Tiedemann, engagierter Pädagoge, will besonders dem Schulpersonal Argumentationshilfen zur Hand geben. Er greift die alten und neuen Verdrehungen auf und setzt ihnen akribisch die Wahrheit entgegen. Der Behauptung, daß der „Führer“ nichts wußte vom Holocaust, stellt er u. a. Zitate aus Hitlers „Mein Kampf“ gegenüber, Äußerungen vom Auschwitzkommandanten Höß sowie den durch Himmler übermittelten Führerbefehl zur physischen Vernichtung der Juden. Daß die deutsche Bevölkerung ahnungslos war - eine lange Liste von dokumentarisch belegten Fakten steht gegen diese Verdrängung (z. B. die Nürnberger Gesetze vom September 1935, die sogenannte „Reichskristallnacht“ vom 9./10. November 1938, der Überfall auf Polen am 1. September 1939). Das Buch setzt auf Aufklärung. Gleichzeitig fragt sich der Autor, ob auf diese Weise Menschen von einer menschenverachtenden Politik und Geschichtsauffassung abgebracht werden. Das deutliche und hartnäckige Beharren auf Wahrheit - welchen deutschnationalen, welchen antisemitischen Fanatiker bringt das zum einsichtigen Denken?

Von Imre Kertesz (Roman eines Schicksallosen) ist der Satz: „Es geht nicht um Schuld, sondern nur darum, daß man etwas einsehen müsse ..., allein dem Verstand zuliebe, des Anstands wegen, sozusagen.“ Anstand - Wort und Bedeutung scheinen aus ferner Zeit. Verloren gegangen in den Labyrinthen des Verdrängens und Vergessens. Erinnern - ohne Bezugspunkte - verläuft sich im Gestrüpp allgemeiner und politischer Appelle. Will den Weg der Erinnerung nicht mehr gehen, der steinig ist und beklemmende Ausblicke hat auf vergangene Wirklichkeit. Zum Beispiel Polen. Blitzkrieg. Fanfaren des Sieges im Volksempfänger. Sondermeldung am 27. September 1939: Warschau gefallen, am 6. Oktober: Polen kapituliert. Kasimir Brandys schreibt in Briefe an Madame Z., daß die Deutschen gern andere Länder überfallen - als Touristen oder als Soldaten. So kann es vorkommen, daß der Soldat ein Bild und dann einen Menschen schießt. Oder umgekehrt.

Es war einmal. Warschau im Herbst 1939. Ein Bildband, bei der Neue Presse Verlags-GmbH herausgegeben von Stefan Rammer und Peter Steinbach. Die Publikation verdankt ihre Existenz einem Zufallsfund: Negative im Schuhkarton, über 50 Jahre lagen sie auf einem Dachboden. Die Bilder zeigen Warschau nach dem Überfall. Der Fotograf kommt wahrscheinlich aus dem Umfeld der Wehrmacht, so unbefangen sucht er sich Motive, dokumentiert Situationen im jüdischen Viertel, macht - unbeabsichtigt - Erinnerungsfotos. Von einer Lebenswelt, die kurze Zeit später vernichtet wird. „Verbrannt ganz und gar“ wird Hannah Arendt nach dem Krieg schreiben.

„Wer genau hinsehen will, braucht die Kraft zum Stillhalten, vor allem, wenn ein industriemäßig betriebenes Verbrechen plötzlich ein Gesicht bekommt. Wer überdies noch auf das schaut, was im Verbrechen des Völkermords vergangen ist, welche Welt da ganz und gar unterging, der braucht noch mehr Kraft. So nimmt man wahr, was sich vor der „Endlösung der Judenfrage“ ereignete, indem man sich das Leben in den Städten Ostmittel- und Osteuropas vorstellt. (...) Beim Hinschauen standhalten zu können, dies ist die wichtigste Voraussetzung jeder persönlichen Konfrontation mit der deutschen Zeitgeschichte.“ Peter Steinbach, Politologe und Historiker, weist auf den Wert der Fotos als authentisches Zeugnis hin: Bilder bahnen einen Weg in die Vergangenheit. Geben dem Erinnern - vielleicht - Nähe.

Warschau im Herbst 1939. Noch tragen Juden nicht den Gelben Stern. Diese Kennzeichnungspflicht wird am 27. November 1940 im Generalgouvernement Polen eingeführt. Auch die Abriegelung des jüdischen Ghettos erfolgt später. In den ersten Wochen nach dem Überfall war das zerstörte Warschau Fluchtpunkt von zehntausenden Juden aus ganz Polen. Die jüdische Bevölkerung wuchs von 350000 auf über eine halbe Million Menschen an. Ihre Hoffnung: Im Schutze der großen Stadt überleben zu können.

In diesen Tagen und Wochen muß es gewesen sein, daß der unbekannte Fotograf durch Warschau schlenderte. 250 Bilder entstanden. Der Blick des Eindringlings ist nicht voyeuristisch, eher neugierig, frei von Bösartigkeit. Das Fremde ist ihm des Festhaltens wert. Schnappschüsse des Alltags. Gesichter. Gesten. Straßenszenen. Im Detail die Dimension des Verbrechens.

Auf Seite 166 zwei Männer und eine Frau. Sie stehen vor einer Bekanntmachung. Daneben, auf Seite 167, die Bekanntmachung, überschrieben mit „Urteilsvollstreckung“. Es wird mitgeteilt, daß der Kraftfahrer Karol Leszpiewski vom Standgericht zum Tode verurteilt wurde, weil er im Besitz von Waffen war. Einige Seiten zuvor Eisenbahnwaggons mit lachenden Soldaten. Nachschub aus Deutschland oder Rückführung in die Heimat. Deutsche Sprüche an den Wagenwänden:

Es war einmal ein Polen. Mit Mann und Roß und Wagen, so haben wir sie geschlagen. Warschau, Paris, London. Gott strafe Engelland. Auf zu neuen Taten. Führer befiehl - wir folgen.

Es stand geschrieben und alle haben es gelesen.

Der Fotograf knipst wieder und wieder Menschenansammlungen, die ganz offensichtlich um etwas anstehen: Genehmigungen, Kohle, Brot. Es fehlt an allem. Die Menschen frieren, sind hungrig, haben Angst. Sie stehen geduldig. Ihre Blicke sind groß und schwer, manche mit dem Abglanz eines Lächelns. Ihre Vernichtung ist schon beschlossen.

Wenn diese Fotos nicht wären ... Es bliebe von diesen Menschen, von ihrer Welt keine Spur. Versunken in der Anonymität. Als wären sie nie gewesen. Wissen, daß es war, ist immer nur ein Zweig des Erinnerns. Der Bildband gibt dem allgemeinen Wissen ein Gesicht - das des Mannes, der sich einen Sarg auf den Rücken geschnallt hat, das der Frau, die aus einem Tonkrug ißt, das der drei Jungs, die im Herbst 1939 ihre Kindheit verloren haben.

Am 16. Oktober 1940 erließen die Nazis die Verordnung zur Errichtung des Warschauer Ghettos. Bernard Goldstein, Mitglied der jüdisch-sozialistischen Partei Polens, in den Jahren der deutschen Besatzung Leiter der Untergrund-Miliz, Organisator der Waffenlieferungen für den Aufstand, erinnert sich: „Es ist unmöglich, die furchtbaren Szenen zu beschreiben, die sich in jenen 2 Wochen auf den Straßen Warschaus abspielten. Überall herrschte wilde Panik. Leute rannten wie besessen durch die Straßen, tötliche Angst in ihren verweinten Gesichtern. (...) Ich versuche, mir jene Szenen und Erlebnisse ins Gedächtnis zurückzurufen. Eigentlich kann ich sie nicht Erlebnisse nennen, weil dies eine Serie von vorrübergehenden Ereignissen bedeuten würde. Tatsächlich war es etwas ganz anderes. Es war ein anhaltendes Erleben, daß volle fünf Jahre dauerte - ein Alpdruck ohne Unterbrechung“. Im Juni 1942 begannen die ersten Massendeportationen aus dem Ghetto. Weitere erfolgten im Januar 1943. Der Aufstand im Warschauer Ghetto datiert von 19. April bis 16. Mai 1943. Vom 1. August bis 3. Oktober 1944 fand der Warschauer Aufsand statt. Am 17. Januar 1945 zieht die Rote Armee in die verlassene und zerstörte Hauptstadt Polens ein. Am 27. Januar 1945 wird Auschwitz befreit.

Jeder Tag in jenen Jahren des deutschen Terrors könnte ein Tag des Gedenkens an die Opfer der NS-Diktatur sein.

Eigens zum offiziellen Datum am 27. Januar 1997 wurde Jan Karski eingeladen. Seit 55 Jahren ist er zum ersten Mal wieder in Deutschland. Auf die Reporterfrage, warum zuvor nicht, sagt er nur: „Man hat mich nie eingeladen.“ Das Besondere beim diesjährigen Gedenken ist sein Leben. Diesmal für die Deutschen, damit sie nicht vergessen, woran sie sich sowieso nicht erinnern können: Karskis Erleben - wie das vieler anderer - war und ist nicht ihr Leben. „Ich habe furchtbare Dinge gesehen“ sagt Jan Karski. Man kann es jetzt nachlesen. Thomas Wood und Stanislaw Jankowski haben die Biographie geschrieben, Jan Karski - einer gegen den Holocaust im Bleicher Verlag auf deutsch erschienen. Es ist die Geschichte einer lebensgefährlichen Mission. Im Sommer 1942 läßt sich Karski als Kundschafter ins Warschauer Ghetto einschleusen, danach, verkleidet als ukrainischer Kollaborateur in das Vernichtungslager Izbica Lubelska, eine Durchgangsstation zu dem Lager Belzec, in dem etwa 600000 Juden ermordet wurden. Karski steht an der Rampe und erlebt die Selektionen: Gaskammer oder Mord durch Arbeit. Die SS faßt ihn, die Gestapo prügelt ihn halbtot. Polnische Widerstandskämpfer befreien ihn, durch halb Europa rettet er sich nach London und informiert die Alliierten über den Völkermord an den Juden. Seine persönlichen Berichte sowie die Mikrofilme darüber werden zwar zur Grundlage eines Memorandums der Alliierten, wie Karski vier Jahrzehnte später erfahren wird - aber sein persönlicher Einsatz führt nicht zu dem beabsichtigten Ziel: Die Beendigung des Massenmordes als zentraler Punkt der alliierten Kampfstrategie. Karski hat sowohl Anthony Eden, dem britischen Außenminister, über die „Endlösung“ berichtet als auch Präsident Roosevelt, der ihn im Sommer 1943 im Weißen Haus empfing. „Nachgefragt aber hat er nicht“, erinnert sich Karski heute. Damals führt diese Haltung zu einer tiefen Verbitterung. Wieviel Leben hätten gerettet werden können, wenn ... Nach dem Krieg schwört Karski, nie wieder darüber, was er gesehen hat, zu sprechen. Erst nach langem inneren Widerstand bricht er 1978 sein Schweigen und geht für Claude Lanzmann's Film „Shoa“ vor die Kamera.

Die derzeitige Vortragsreise des 82jährigen durch das Land seines langwährenden Hasses ist eine Geste des „Guten Willens“ von der er überzeugt ist, daß sie erwidert wird. Es ist, zum 52. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, eine äußerst noble Haltung. Nicht mißzuverstehen als Grundierung für Historienmalerei im Stile „nun wird alles wieder gut“. Im jährlichen Rhythmus zeremoniellen Gedenkens passiert so manches, was auf Angleichung sehr verschiedener Positionen in und zu der Vergangenheit hindeutet, und am Ende einen nivellierenden Begriff von Geschichte, die schicksalhaft allen wiederfuhr, gesellschaftsfähig macht. Wenn z. B. die Rede ist von „dem Wissen um die einzigartige, gemeinsame Vergangenheit“, so Eberhard Diepgen im Geleitwort zu den Erinnerungen des Rabbiners Nathan Peter Levinson - kann das schon irritieren. Erinnern braucht ein Maß - die ungeschönte, von politischem und persönlichem Pragmatismus freie Wahrnehmung der Wirklichkeit. Den Blick zurück auch im Zorn und mit Fragen.

Beides ist so sehr nicht die Art von Levinson. Er erzählt seinen Lebensweg, von der Flucht mit den Eltern aus Deutschland bis zur Rückkehr in das Land seiner Kindheit, er berichtet von Stationen eines bewegten Lebens, u. a. als Militärrabbiner der amerikanischen Luftwaffe in Japan und Ramstein, von der Tätigkeit als Gemeinderabbiner, von der Verantwortung und den Auseinandersetzungen als Landesrabbiner in Baden sowie in Hamburg und Schleswig-Holstein. Das sind wichtige und informative Blicke in die jüdische Lebenswelt, und überzeugend vermittelt durch die Persönlichkeit Levinsons die Traditionen des liberalen deutschen Judentums. Ein Ort ist, mit wem du bist - der Titel des in der Edition Hentrich erschienenen Buches entspricht wohl einer tiefen Überzeugung sowie den gemachten Erfahrungen des Autobiographen. Es sind die Menschen, die einen Ort wohnlich, ein Haus zum Zuhause, Arbeitsstätten zu Lebensschulen machen.

Wie auf einer Perlenkette reiht Levinson die Namen all der Menschen, die seinen Weg bestimmt, begleitet, gekreuzt und verlassen haben. Ob es die lebenssprühende Oma Weiss ist, die ihm in Vorbereitung seiner Bar Mizwa Texte abhörte, oder die sehr schöne Tante Käthe, die versuchte, ihm seine Scheu vor den Menschen zu nehmen - und die aus Auschwitz nicht wiederkam. Er erinnert sich an Klassenkameraden aus dem Berlinischen Gymnasium Zum grauen Kloster, und er trauert um den Rabbiner Hans Löwenthal, Lehrer und Freund, der als „Judenabholer“ (d. h. er mußte Juden, die deportiert werden sollten, aus ihren Wohnungen abholen) eingesetzt und schließlich mit seinen Eltern selbst deportiert wurde. Er denkt an seinen Lehrer Leo Baeck an der Adass-Schule (eine streng orthodoxe jüdische Einrichtung) und an dessen Satz, daß die verschiedenen religiösen Richtungen Adjektiva seien, und daß es auf das Substantiv, nämlich das Judentum selbst, ankomme. Später sind es Künstler, Politiker (Ludwig Ehrhard, Walter Scheel, Helmut Kohl), bekannte jüdische Persönlichkeiten wie Martin Buber, Heinz Galinski, Ignaz Bubis, mit denen er zusammentrifft, diskutiert und arbeitet.

Leise und behutsam geht Levinson auf das Thema ein, das mehr als irgendein anderes keine anmaßenden oder anbiedernden Töne verträgt: Die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland.Mit Bezug auf seine aktive Mitarbeit im DKR (Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit), für die er „von jüdischer Seite aus angegriffen, belächelt, kritisiert worden“ ist, erklärt er seine Haltung:“ Ich wollte mein Teil dazu beitragen, daß es keinen neuen Holocaust mehr geben würde. Mit der Zeit sah ich jedoch ein, daß das nicht genügt und daß man von einer Negation her keine positiven Werte schaffen kann.“ Levinson plädiert für Offenheit in der religiösen Begegnung, und er setzt auf Aufklärung im Verhältnis zu nichtjüdischen Deutschen. Von daher kommt wohl auch die Zurückhaltung in der Bewertung der politischen Klasse, auf deren Empfängen ihm schon mal Filbinger über den Weg laufen konnte - nach Bekanntwerden seiner Vergangenheit. Die Bereitschaft zum Dialog, konstatiert Levinson, hängt „vom Grad der Verfolgung“ ab. „Daher sind Juden, die aus dem Osten stammen, und sie sind heute in Deutschland die Mehrheit, dem Dialog gegenüber weniger aufgeschlossen als jene, die den Terror des Nationalsozialismus nicht hautnah haben erfahren müssen“.

Levinson weiß: Das Gedächtnis der Opfer ist länger und genauer als das der Täter und Nutznießer. Der Seismograph ihrer kollektiven Erfahrung - entstanden aus millionenfacher Demütigung, Verzweiflung und Todesängsten - nimmt schon die kleinsten Bewegungen unter der einst verkrusteten und später einigermaßen glattgeschmirgelten Oberfläche der Gesellschaft wahr. In filigranen Linien zeichnet die Gedächtnisnadel Strömungen nach, noch ehe sie als Aktion manifest werden - was im Polizei-und Mediendeutsch dann beschrieben ist mit „die Täter kommen vermutlich aus rechtsextremen Kreisen“. Die geistige Elite kommt weniger dort vor als vielmehr zu politischen Seminaren mit nationalen Folkloreabenden z. B. auf Schloß Weickersheim im Süddeutschen zusammen (Schirmherr Filbinger).

Der Auschwitz-Gedenktag ist gewiß auch redliches Bemühen um dauerhafte Verankerung von Schuld und Verantwortung im historischen Bewußtsein - doch ebenso gewiß ist ihm eine Hauptrolle zugedacht in der Inszenierung von Deutschlands neuer Stellung seit dem 3. Oktober vor 7 Jahren.

Deutschland und seine Daten.

Ein jüdischer Emigrant aus den USA, als er die News vom 9. November 1989 hörte:“ Jetzt geht es wieder los.“ Diese Angst-Erwartung muß man nicht teilen - aber vielleicht doch immer mit(be)denken.

Das Gedächtnis der Opfer ist lang und genau - und ihre Träume sind Bilder vom Tod.

Abels Gesichter - Auschwitz
Bildband.
Zambon Verlag, Frankfurt/M. 1995, 189 S.

Markus Tiedemann
In Auschwitz wurde niemand vergast!
Verlag an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr 1996, 180 S.

Stefan Rammer/Peter Steinbach (Hrsg.)
Es war einmal. Warschau im Herbst 1939
Neue Presse Verlags-GmbH, Passau 1995, 227 S.

Thomas Wood/Stanislaw Jankowski
Jan Karski - einer gegen den Holocaust
Bleicher Verlag, Gerlingen 1997, 359 S.

Nathan Peter Levinson
Ein Ort ist, mit wem du bist
Edition Hentrich, Berlin 1996, 320 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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