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Bilanz: Surrealer Sozialismus

- Im Gespräch mit Hans Bentzien -

Herr Bentzien, Sie haben sich in der DDR in verschiedenen, meist hochkarätigen kulturpolitischen Funktionen leidenschaftlich für das Sozialismus-Projekt engagiert und sind dabei immer wieder risikobereit und mutig auch eigenwillige Wege gegangen. Eigentlich sollte so etwas der Sache höchst dienlich sein, Sie aber handelten sich damit Abstrafungen und Sanktionen durch Ihre Partei ein. So hatten Sie in den 60er Jahren als Kulturminister eine reiche kulturelle Entwicklung im Lande gefördert, in der Kunstwerke aller Genres selbstverständlich auch ihre kritische Funktion wahrnahmen. Auf dem berüchtigten 11. ZK-Plenum von 1965 reagierte die SED-Führung jedoch mit rüdesten Verdammungsurteilen auf diese Kunstwerke und deren Schöpfer - und Sie wurden danach Ihres Amtes enthoben. 1978 hatten Sie sich als Chef der Dramatischen Kunst des DDR-Fernsehens gegen heftige Widerstände einflußreicher Parteikader und des MfS für den kritischen Film „Geschlossene Gesellschaft“ von Klaus Poche und Frank Beyer stark gemacht und letztlich dessen Ausstrahlung durchgesetzt. Auch das kostete Sie Ihr Amt.

In dem Buch „Meine Sekretäre und ich“, erschienen im Verlag Neues Leben, schildern Sie Ihre wechselvolle Lebensgeschichte und damit zugleich ein aufregendes und aufschlußreiches Stück DDR-Geschichte. Was hat Sie bewogen, sich nun auch einzureihen in die inzwischen stattliche Zahl der politischen Geschichtenerzähler aus einem untergegangenen Staat?

Zuerst, glaube ich, sollte man davon ausgehen, daß der Autor eine Idee hat, eine allgemeine Zielstellung. Insofern habe ich mich natürlich bemüht, ein bißchen abzuklopfen: ist Sozialismus Unfug, oder ist er nur ein Idealbild, oder ist er Realität gewesen. Nun bin ich kein Anhänger dieser Theorie vom realen Sozialismus. Das ist nämlich nur eine Ausrede, die kommt von Breshnew. Damit kann ich jeden Mißstand und alles, was an Schlimmem vorgeht, kaschieren und behaupten, das ist eben der reale Sozialismus. Es war aber dann wirklich nur ein surrealer Sozialismus und kein wirklicher. Das hängt damit zusammen, daß die Vorstellungen der Klassiker, also von Marx und Engels, aber auch von Lenin und allen anderen Theoretikern aus dieser Zeit, davon ausgingen, die Übergangszeit vom Kapitalismus zum Kommunismus würde relativ kurz sein. Wenn die Eigentumsfrage geklärt ist, wird sich alles andere schon ergeben, dachte man. Statt dessen sind eine Menge unvorhergesehener, nicht behandelter Probleme entstanden. Sie wurden nicht angepackt, weil diese Zitaten- und Dogmengläubigkeit eingebleut wurde: Das ist von Marx und Engels nicht vorgesehen, demzufolge müssen wir uns damit nicht beschäftigen, obgleich es riesige Institute gab, die eigentlich dafür eingerichtet wurden, Parteiinstitute, Akademien, Universitätsinstitute, was auch immer. Und sie beschäftigten sich alle nur mit der Interpretation.

Merkwürdig. Denn einer der berühmtesten Sätze von Marx heißt doch: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber drauf an, sie zu verändern.“

Ja, darum muß man sich als einer, der bewußt hier gearbeitet hat, auch heute dazu bekennen, daß es richtig war, einen sozialistischen Versuch in der Praxis zu unternehmen. Es ist nur so, wenn man sich als junger Mensch dazu entschließt, kann man natürlich, wie überhaupt im Leben, nicht übersehen, was auf diesem Weg so alles passiert. Und doch waren wir etwas besser vorbereitet als die neue Generation nach uns, denn wir hatten noch die alten Kumpels kennengelernt, die aus der Emigration oder aus dem KZ kamen. Meine Lehrer kamen alle daher, Bernard Koenen, Rudolf Singer. Oder auch Alfred Kurella, er war 1913 schon auf dem Hohen Meißner bei der Friedensmanifestation der Jugendbewegung dabei. Das waren alles individuell gefärbte Leute. Und doch haben sie alle nicht verstanden, daß fehlende Kritik an Mißständen, Fehlern und Schwächen ein Verhängnis war: Sie begriffen nicht, daß Kritik lebensnotwendig war für den Sozialismus. Sie haben diese notwendige Kritik nicht geübt und sind unbequemen Fragen ausgewichen. Wenn man die Parteitagsprotokolle nachliest - ich habe das gemacht, bevor ich das Buch schrieb -, es war alles Apologie. Schon der alte Plato wußte, Apologie und Kritik gehören zusammen. Für eine Sache eintreten und sie gleichzeitig in Frage stellen, darauf waren wir, ich will nicht sagen, gar nicht, aber ungenügend vorbereitet.

Demnach gab es also außer Apologie auch noch andere geistige Einflüsse? Auch kritische Impulse?

Ja, wir hatten schon 1948 in Jena Unterricht bei solchen Leuten wie Georg Klaus, der aus Dachau kam. Um die Wirkung dieses Mannes auf uns zu beschreiben, wende ich mal eine berühmte Formulierung aus der Philosophiegeschichte an und sage: Wir waren momentan alle Klausianer. Hinzu kamen die geistigen Anregungen von Ernst Bloch und Hans Mayer, oder des Ökonomen Fritz Behrens aus Leipzig. Die Faszination, die von diesen Leuten ausging, war ihre dialektische Betrachtungsweise der Wirklichkeit. Völliger Blödsinn war die Furcht vor diesen Ideen. Denn es waren ja marxistische Ideen. Und trotzdem: unser Dozent Bruno Warnke, der sich zu Behrens bekannte, landete im letzten Hinterzimmer der Staatsbibliothek, wo er ökonomische Literatur registrieren mußte.

Womit hingen diese Angst vor der Dialektik, diese Reduktion auf Apologie, dieses Schweigen vieler Ihrer politischen Lehrer zusammen?

Es wurden damals noch eine Menge Trotzkisten und andere Abweichler gesucht und auch gefunden. Das liegt wieder daran, daß der Kern der Parteiführung - was wir damals nicht erkennen und wissen konnten - aus der Zeit Stalinscher Säuberungen kam. Das Wort „Säuberungen“ ist ein Hohn. Es waren natürlich Verbrechen gegen den Sozialismus. Ein Teil der Emigranten hatte sich gerettet. War er aber auch schuldig geworden ? Ganz sicher. Denn es waren 1 700 Kommunisten allein in Moskau, und 700 sind zurückgekommen. Wo sind die 1000 geblieben? Mit welchem Material wurden sie alle angeklagt? Welcher Verbrechen beschuldigte man sie? Ich nenne nur drei von den Zurückgekommenen, weil ich mit ihnen zu tun hatte. Der eine war mein Lehrer Bernard Koenen. Aber auch so ein Mann wie Alfred Kurella, der einige Zeit im Kaukasus verbannt war. Er hat das später ja so dargestellt, als ob das ein besserer Urlaub gewesen wäre. In Wirklichkeit war es eine Verbannung. Warum haben diese Leute uns nichts gesagt? Weil die Angst sehr, sehr tief saß. Auch ein solcher Mann wie Erich Wendt, der ja mein Mitarbeiter, Staatssekretär war und eigentlich wie ein Vater vom Alter und von den Erfahrungen her. Auch er war falsch diszipliniert und hat nie, nicht einmal auf dem Totenbett, davon gesprochen, warum er als der Erste Volksfeind angeklagt wurde. Es gehörte sich nicht, darüber zu sprechen.

Hatten sie heilige Eide geschworen? Gab es geheimnisvolle Bindungen an irrationale Systeme? Oder waren sie einfach nur erpreßbar geworden?

Ich weiß es nicht. Das müßten andere untersuchen. Aber da wird man nichts finden. Jedenfalls hat keiner dazu gesprochen. Ein Beispiel: Ich habe jetzt versucht, ein Interview mit Lotte Ulbricht zu machen. Sie hat ihren ersten Lebensgefährten verlassen, also Erich Wendt. Und als er dann im Gefängnis und in Sibirien war, hat sie sich Walter Ulbricht zugewandt. Beide haben zusammen gelebt seit Anfang der 30er Jahre. Es ist ganz klar, daß man eine solche politisch bewußt denkende und handelnde Frau etwas fragen muß aus dieser Zeit. Sie lehnte es ab, weil für sie alle Medien heute feindliche Medien sind. Ich wollte mit der Kamera kommen und habe gesagt: „Du kannst sagen, was Du willst. Es wird nichts vorgesprochen. Ich stelle Fragen, und wenn Du sie ablehnst, lehne sie ab.“ Ich habe ihr freie Hand gelassen. Da hat sie gesagt, ich sei naiv. Sie glaubt heute noch nicht, daß es wichtig für ihre Mitstreiter und Genossen ist, sich zu diesen Fragen zu äußern. Weshalb ist der Sozialismus kaputtgegangen? Dazu muß man doch etwas sagen, wenn man an der Seite eines Mannes lebte, der Jahrzehnte die DDR geprägt hat.

Hier handelt es sich offenbar um unheilvolle Verdrängungsprozesse und nachhaltige Persönlichkeitsbeschädigungen. Mögen die Gründe auch nachvollziehbar sein: Dieses Verschweigen der ganzen historischen Wahrheit war ein verdammt hoher Preis. Mußte er wirklich bezahlt werden?

Es ist natürlich ein hoher Preis, aber er war nicht notwendig. Das meiste Fehlverhalten war überhaupt nicht notwendig, glaube ich. Wieviel kluge Leute hatten wir in der Ökonomie! Wer hat uns gehindert, diese führenden Köpfe aus der SU, aus Polen, der DDR, Ungarn usw. zusammenzubringen und zu sagen: Arbeitet wie Marx nach 50 Jahren Kapitalismus nunmehr nach 50 Jahren Sozialismus bitteschön die Gesetze der sozialistischen Markwirtschaft aus! Das hätte doch geschehen können. Warum denn eigentlich nicht? Statt dessen hat man einen ungehobelten Nichtskönner, einen Scharlatan wie den Mittag geholt und hat den regieren lassen, als wenn das hier das absolutistische Preußen gewesen wäre. Also dieses Defizit an demokratischem Verständnis, um die Köpfe zu mobilisieren. Da hat ja selbst König Friedrich Wilhelm III., der wirklich geistig beschränkt war, einen Mann wie den Landwirtschaftswissenschaftler Thaer nach Möglin geholt, ihm 70 000 Taler Startkapital gegeben und gesagt, mach mir die englische Landwirtschaft, probier die aus, es gibt nicht genug zu essen für die Leute, es gibt nicht genug Bekleidung, also kümmere dich um die Schafzucht und die Verarbeitung der Wolle. Sogar ein solcher Mann hat sich Spezialisten geholt, von Hardenberg vermittelt. Diese Aufklärer kannten sich meistens aus dem Studium. Und in dieser aufklärerischen Tradition, die ja in Deutschland bestimmend war, hätte der Sozialismus - wie wir immer gesagt haben - auf einer höheren Stufe stehen müssen. Aber diese höhere Stufe hat er nie erreicht, sondern er ist weit hinter dem Möglichen zurückgeblieben, weit auch hinter dem, was ein Mann wie Bloch erdacht hat. Es gab ja kritische Marxisten wie Marcuse usw., die sich wirklich mit den modernen Problemen, den Veränderungen in der gesellschaftlichen Realität beschäftigt und versucht haben, aus philosophischen Erfahrungen und Theorien auch des ausgehenden 19./anfangenden 20. Jahrhunderts eine neue sozialistische Theorie zu entwickeln. Das wurde gar nicht abgeklopft, das wurde gar nicht geprüft. Wer nicht in der Parteiliste stand, wurde, kann man so sagen, verteufelt. Ich muß sagen, dieser Preis mußte nicht gezahlt werden. Mit anderen Worten: Die sozialistische Idee zu erproben war richtig, die Stolpersteine auf dem Weg zum Ziel hätten zum großen Teil beiseite geräumt werden können.

Die Defizite klingen zum Teil wie lächerliche Torheiten. Oder war das subjektive Versagen der Verantwortlichen noch mit anderen Problemen verknüpft?

Nehmen wir das entscheidende, kardinale Problem. Das war zweifellos die Frage, die die Sowjetunion zu entscheiden hatte: Wie verhält man sich im kalten Krieg, wenn man die Wasserstoffbombe hat? Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sind Explosionen dieser Bombe außerordentlich verheerend. Nicht nur die Erdatmosphäre, die ganze Galaxis wäre in Mitleidenschaft gezogen. Kein Kraftwerk funktionierte mehr. Es gäbe keinen elektrischen Strom mehr. Die Sowjetunion, im Besitz dieser Bombe, hätte verzichten können auf die beherrschende industriell-militärische Sektion der Volkswirtschaft, die zum Schluß 40 Prozent des Nationaleinkommens geschluckt hat. Das hält kein Staat aus. Das muß ich aber wissen, wenn ich den Führungsanspruch erhebe. Die Statistik sagt es doch, da brauche ich doch gar keine besondere Weisheit dazu, um zu verstehen, daß das nicht geht. Und dazu noch unter den Bedingungen dieser abgekastelten Wirtschaftsentwicklung, bei der ja die Ergebnisse der militärischen Forschung nicht in die private Sphäre, nicht in die normale zivile Industrie übergeleitet werden durften, was sich in einem westlichen Konzern von allein ergibt.

Durch ihre Beschränktheit haben führende Politiker des Sozialismus ihren Gegnern geradezu strategisch in die Hände gespielt. Denn es ging ja schließlich darum, den Kommunismus totzurüsten. Oder?

Ja, aber jetzt haben auch die Sieger ihre Schwierigkeiten, wie wir sehen. Die kommen ja von dieser irrwitzigen Hochrüstung. Das hat noch lange Folgen, da die Erde nicht befriedet ist. Jetzt geht der Wettlauf um die Rohstoffe und natürlich um die finanzielle Herrschaft in Rußland. Ich will nur sagen, eine Regierung hatte und hat auch heute jedwedes Instrument, das sie braucht, um objektiv richtige Entscheidungen zu treffen. Daß aber der subjektive Wille eines halbgebildeten Mannes wie Honecker oder eines hilflosen Träumers wie Gorbatschow nicht ausreichen, Länder oder Staaten in höchster Verantwortung zu regieren, das wissen wir. Wenn ich aber lese, was mein Freund Schürer in seinen Memoiren schreibt, dann ist er als Vorsitzender der Plankommission im Politbüro in den 14 Jahren überhaupt nicht zu Wort gekommen. Warum saß er überhaupt da? Nur um die langen Ausführungen der Vorsitzenden entgegenzunehmen oder was? Und er wußte es nun wirklich dank seines Apparates weit besser. Und er hatte auch Ideen, die produktive Reibung ergeben hätten. Und das Gute ist ja, daß sich in der Demokratie durch Widerspruch Konflikte ergeben, und durch die Lösung von Konflikten ergeben sich neue Wege. Diese einfache Weisheit von Kant und Hegel haben wir zwar gepredigt, aber nicht beachtet.

Ein Bereich, den Sie wesentlich mitgeprägt haben und der auch Sie geprägt hat, war das Fernsehen der DDR. In der aufregendsten Zeit für die Medien in der DDR waren Sie Generalintendant des Fernsehens. Sie wissen um die politische Wirkung dieses Mediums. Ist es die Vierte Macht in einer modernen Gesellschaft?

Diese These teile ich nicht. Das Fernsehen ist ein Instrument der Macht. Das ist etwas anderes. Das deutet sich schon dadurch an, daß die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft sich verschiedene TV-Stationen geschaffen haben, die Unternehmer, die Verwaltung und Regierung und in gewissem Sinne, ich sage das vorsichtig, auch die Opposition. Es gibt in manchen Sendern Leute, die oppositionell eingestellt sind. Andere Sender bevorzugen Apologeten. Wir sind uns im Prinzip darüber klar. Es ist ein Instrument der Herrschaft, und das war es auch in der DDR. Aber unter den beschränkten Bedingungen. Ich halte nichts von der Verteufelung des Fernsehens. Das sage ich nicht, weil ich da gearbeitet habe, sondern weil ich es heute für das wichtigste Instrument der Aufklärung halte. Die täglichen Informationen im Fernsehen sind das stärkste Instrument, das die Leute heute haben. Das zu verteufeln, wäre Quatsch. Man sollte nur fragen, wer kontrolliert das? Das Fernsehen kann nicht besser sein als die Politik überhaupt, und es wird stets die Strömungen und Meinungen der Gesellschaft, besser gesagt, führender Gruppen und Schichten der Gesellschaft widerspiegeln, in verschiedenen Sendungen durch verschiedene Leute. Selbst bei der Nachrichtengebung merkt man das. Zwar ist die Meldung immer genau die gleiche, ob beim Sender A oder B oder C. Selbst die Reihenfolge ist meistens die gleiche, da denkt man, die Abteilung Agitation beim ZK hat das vorgegeben, wie das bei uns war. Aber die Behandlung und Bewertung der Meldungen, der verschiedenen Themen weisen natürlich sehr viele Nuancen auf. Das war bei uns nicht der Fall. Es gab eine allgemeine Lesart, und die wurde durchgesetzt.

Aber Sie sind doch ein gutes, leider zu seltenes Beispiel dafür, sich diesem „Durchsetzen“ auch zu widersetzen.

Man muß schon unterscheiden, ob einer Spielräume nutzte oder mit einem blanken Befehl konfrontiert war. Ich nenne ein Beispiel. Als immer mehr DDR-Bürger, darunter viele junge Menschen, über Ungarn in den Westen flüchteten, mußte ein Kollege in seinen Kommentar diesen Satz aufnehmen: „Wir weinen ihnen keine Träne nach.“ Das war ein von Honecker verlangter und vorgegebener Satz. Der Kollege hat sich bald die Zunge abgebissen, er wollte das nicht sagen. Man hat ihn dienstlich gezwungen, diesen unsäglichen Satz in seinen Kommentartext aufzunehmen und unter seinem Namen zu verkünden. Nun, du kannst sagen, danke, das war mein letzter Arbeitstag. Es ist die berühmte Frage, die von Luther vor dem Reichstag in Worms zum ersten Mal aufgeworfen wurde. Wenn man sich die Rede durchliest, stößt man auf den Satz, daß er nicht abschwört, weil es nicht geraten ist, etwas wider sein Gewissen zu tun. Da taucht zum ersten Mal das Gewissen auf. Kehren wir in unser Jahrhundert zurück und nehmen wir Stauffenberg. Es ist nur aus Gewissensnöten zu erklären, daß ein solcher Mann aus dem schwäbischen Adel eine Bombe gegen Hitler einsetzte. Er war der für die Auffüllung der Reserven verantwortliche Offizier im Generalstab. Er hat gesehen, daß die deutsche Jugend kaputtging, und beschloß schon 1942, etwas dagegen zu tun, bevor es ganz und gar zu spät war. Daß das nicht gelungen ist, ist eine ganz andere Sache. Also, ich will nur sagen, der Fernseh-Redakteur durfte jenen Satz nicht sagen, wenn er nicht der Meinung war, daß dieser Satz richtig ist. Er war es zweifellos nicht. Als ich Fernseh-Chef wurde, habe ich den Mann hinter die Kamera gesetzt, als Redakteur vom Dienst usw. Er arbeitet auch heute in einem Sender, weil er ein ausgezeichneter Fachmann ist.

Gerade weil man vom Menschen wohl nicht verlangen kann, ein Held zu sein, zeigt dies, wie ein zentralistisches System Menschen deformieren kann. Andererseits zeigt das schöne verrückte halbe Jahr des DDR-Fernsehens in der Modrow-Zeit, als Sie dem Unternehmen als Chef vorstanden und keiner mehr von außen hineinregierte, daß alle Deformationen es nicht vermochten, die Kreativität, die Phantasie und den Ideenreichtum so vieler professioneller Mitarbeiter des DDR-Fernsehens abzutöten. Im Gegenteil. Erzählen Sie von diesem einmaligen Intermezzo der Freiheit im wichtigsten Massenmedium des Landes.

Was geschah in diesem halben Jahr im Fernsehen? Es war wie ein Rausch. Zuerst wurden Leiter wegen ihrer verdammten Zensur angegriffen. In allen Abteilungen wurden die Versammlungen zum Tribunal. Da wurden Leute unseres Vertrauens eingesetzt. Die Leiter aus dem Komitee, dem höchsten Leitungsgremium, hatten bereits in der Kenntnis dieses Umstandes ihren Rücktritt erklärt. So konnte ich sie ihrer hohen Funktionen entheben, weil ich niemanden brauchte, der sich zurückgezogen hatte. Dann geschah folgendes: Angeführt durch den Jugendsender Elf 99, der zu ganz anderen Dingen konzipiert worden war, wurde - praktisch vor laufender Kamera - Harry Tisch, der Vorsitzende der DDR-Gewerkschaft, entmachtet. Mit unserem Sender passierte das, was geschieht, wenn man einem Gefangenen, ich nenne mal Fidelio, die Fesseln aufschneidet. Er fängt an, sich zu regen, die Muskeln beginnen wieder zu arbeiten, und der Organismus lebt wieder. Man konnte sehen, was der einzelne auf der Pfanne hatte. Es gab keine Zensur mehr, nur persönliche Verantwortung. Zwar mußte der Leiter sagen, was abends gesendet wird. Manchmal wußten wir dies am Mittag noch nicht. Aber es gab eine Fülle eigener Angebote. Wir hatten zwei Richtlinien herausgegeben. Alle Sendungen müssen dazu dienen, gesellschaftlichen Frieden zu befördern, und sie müssen Mißstände kritisch beleuchten und Leute zeigen, die bereit sind, sie zu überwinden, soweit dies möglich ist. Alles andere konnten sie selbst, denn sie waren ja gebildet, wenn auch bis dahin nicht gefordert. Und ich sehe heute alle, die etwas können, wieder. Es ist kein Zufall, daß der Mitteldeutsche Rundfunk das am meisten gesehene 3. Programm ist. Obgleich dem Intendanten immer mal nachgesagt wird, er würde bayerische Politik machen, trifft das offensichtlich nicht zu. Viele Mitarbeiter der Redaktionsebene gestalten dort das Programm. Sicher haben sie sich auch aus der Wendezeit die Erkenntnis bewahrt, wie man in kurzer Zeit erfolgreiche Sendereihen, Magazine usw. erarbeiten kann, wenn man die Kreativität freisetzt. Natürlich stöhnen alle unter der im Westen wuchernden Bürokratie, aber es wurde ja versäumt, die Gelegenheit zu nutzen, das ganze System zu reformieren.

Warum hatte dieser offensichtliche „Aufschwung Ost“ keine tiefergehenden Auswirkungen auf die Medienlandschaft?

Aus den gleichen Gründen, wie auch die Wirtschaft keine Ursache sah, ihre Gewohnheiten zu ändern, es ging um den Verdrängungswettbewerb, auch bei den Medien. Wir hatten jede Menge Angebote von anderen Sendern zu Gemeinschaftssendungen. Aber Günter Gaus war der einzige Wessi, der bei uns gearbeitet hat. In diesem halben Jahr hat es übrigens nur zwei Reinfälle gegeben. Ein junger Redakteur war an ein früheres Mitglied des Politbüros geraten. Das erzählte, Honecker hätte ihn in die Klapsmühle nach Bernburg geschickt. Das versprach einiges. Tatsache war aber, daß der Mann, es handelte sich um Herbert Häber, wirklich krank gewesen war. Die Ärzte hatten ihn untersucht und in die Psychiatrische Klinik geschickt, wo er nach einem halben Jahr als geheilt entlassen worden war. Nun wollte er das Opfer spielen. Der zweite Fall: Als das Munitions- und Waffenlager bei Rostock bekannt wurde, fuhren unsere Leute los, um zu filmen. Es war von Leuten eines Bürgerkomitees aufgebrochen worden. Als unsere Leute ankamen, war alles schon vorbei. Das Lager war wieder versiegelt. Da stand ein 15jähriger Junge herum, den haben sie dann interviewt, als wenn der nun etwas wissen könnte, und das haben die dann auch noch gesendet. Das war peinlich. Aber so etwas passiert schon mal.

Die neue Freiheit war entscheidend für das neue Schöpfertum. Aber mußten Sie auch Anarchie fürchten?

Es geht um die Frage der unbegrenzten Freiheit. Das ist ein philosophisches Problem. Unbegrenzte Freiheit gibt es nicht. Wir kennen ja dieses Wort von Rosa Luxemburg mit den anders Denkenden. Die, die anders denken als du, müssen auch Freiheit haben. Aber die Freiheit des einzelnen muß dem Wohl des Volkes dienen. Wenn sie der Wohlfahrt der Gemeinschaft dient, dann ist sie gerechtfertigt. Natürlich muß man bei einem Sender einzelne Planungen haben. Aber das wichtigste damals war Verantwortung. Alle Leute, die bei uns arbeiteten, haben gekämpft wie verrückt, daß nichts passiert in der DDR, in dieser aufgewühlten und explosiven Zeit. Wir wollten wahrheitsgemäß berichten, aber kein Pulverfaß anzünden. Wir mußten verhindern, daß uns Provokationen - wie dieser Sturm auf die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße - untergeschoben werden. Das sollte ja ein Brand werden. Die Bezirks- und Kreisstätten des MfS sollten brennen. Das haben wir verhindert. Wir hatten manchmal mehr Macht als die Regierenden. Modrow hatte gar keine Zeit, irgend etwas auszuarbeiten. Er wußte: Deutschland einig Vaterland ist die Losung. Aber wie dieser Einheitsprozeß verlaufen sollte, da gab es keine Vorstellungen. Ich würde heute sagen, hätte man diesen Prozeß auf sieben oder zehn Jahre angesetzt und ihn planmäßig begonnen, hätten wir diese Schwierigkeiten mit der Industrie usw. zweifellos nicht gehabt. Denn die Ostverbindungen wären erhalten geblieben. Sie sind zwar heute auch erhalten, aber in den Händen der Westkonzerne, und nicht in denen der Betriebe, die in Sachsen die Unterhosen für die Bergleute in Sibirien hergestellt haben.

Nach dem Intermezzo der unbegrenzten Möglichkeiten kam die Abwicklung. Gab es eine Alternative?

Nein. Das Fernsehen kann nicht besser sein als die Politik. Und mit dieser schwachen, unentschiedenen Politik von de Maizière im Rücken konnte natürlich niemand gutes Fernsehen machen. Die Sendeplätze sind ausgefüllt worden, und daß der Sender so lange bestanden hat, war lediglich dem Werbevertrag zu verdanken, den wir damals mit der französischen Werbeagentur abgeschlossen hatten. Da konnte Herr Mühlfenzl nicht ran. Er hätte zuviel Konventionalstrafe zahlen müssen. Das hätte selbst die Bonner Regierung nicht bezahlt. Übrigens, weil sich kein Abwickler fand, wurde Herr Mühlfenzl ja aus dem Ruhestand geholt und reaktiviert. „Auf Befehl des Bundeskanzlers“ - sagt man. Es gibt eine interessante Rede, die Herr Mühlfenzl vor dem Medienclub in Bonn gehalten hat, nachdem er ein Vierteljahr hier gewesen war. Ich würde vorschlagen, die mal zu drucken. Es ist so, als wenn einer aus Sibirien kommt und sagt, da gibt es Wasser und Gold und die Leute essen Brot. Ich sollte später einmal mit ihm über die Frage der Konzeptionen diskutieren. Ich habe es abgelehnt. Mit Henkern spreche ich nicht.

Bleibt die Frage: Warum war es vor der Wende, vor der Modrow-Zeit in der DDR nicht möglich, ein solches Fernsehen zu machen wie vor dessen Abwicklung?

Weil die Art der Leitung der Gesellschaft und des Staates von oben nach unten dieses Korrektiv von unten nach oben nicht hatte. Es gibt ja diese berühmte Karikatur „Kritik von oben“: Da steht ein kleiner Mann auf der Straße. Oben aus dem 10. Stock gießt einer einen Eimer Wasser über seinen Kopf. Das ist die Kritik von oben. Kritik von unten ist: Dieser Mann nimmt einen Eimer Wasser und will ihn in den 10. Stock gießen, und er wird wieder naß. Das Funktionieren der demokratischen Instrumente ist eine Vorausbedingung für die Befreiung des Gedankens, der Idee, der Kreativität.

Ausführlich schildern Sie in Ihrem Buch die beschämenden Vorgänge um das 11.Plenum und um die Ausstrahlung des Fernsehfilms „Geschlossene Gesellschaft“. So folgenschwer für die Betroffenen dieses Kulturbanausentum auch im einzelnen war, was waren die großen Hintergründe dieser Scherbengerichte?

Das 11. Plenum 1965 und diese Sendung im Fernsehen 1978 waren Muskelspiele. Es waren politische Drohungen gegen die Intelligenz. Die Wirtschaft stand zum 11. Plenum vor einer unlösbaren Aufgabe. Ein geplantes Wirtschaftsabkommen war in Moskau gescheitert, und sie mußte ohne Verflechtung mit der Sowjetunion den neuen Fünfjahrplan bilanzieren. Das war ökonomisch nicht zu leisten. Die Sowjetunion ging auf Rüstungskurs, Weltraumrüstung. Was heute noch immer nicht abgerüstet ist, wurde damals aufgerüstet. Die DDR sollte bedeutend mehr dazu bezahlen, und daher mußten die potentiellen Kritiker gebändigt werden. Das waren die Intellektuellen. Wir dürfen ja nicht vergessen, daß Chruschtschow 1964 abgelöst wurde. An seine Stelle trat Breshnew. Und dessen Rüstungskurs war die entscheidende Dummheit. Dieses Abbürsten der Intelligenz auf dem 11. Plenum zeigte nun die wirkliche Denkungsart der politischen Führung der Partei. Ulbricht, Honecker und alle anderen, die da gesprochen haben, wünschten sich die Intellektuellen eigentlich nur als Idioten, die das machen, was ihnen befohlen wird: „ihre Schulaufgaben“. Aber wenn sie anfangen, selbständig zu denken, dann stellen sie eine Gefahr dar - für die Macht. Diese groben, üblen Ausfälle verrieten also genau die Denkungsart der „führenden Leute“. Wenn man sich die Tonbänder anhört, ist man erschrocken: Das ist nun ein Erster Sekretär, der da redet, oder auch Honecker. Es war ein Debakel, kein Vergleich mit Wilhelm Liebknecht oder August Bebel oder Rosa Luxemburg oder Karl Kautsky; was waren das für gebildete Leute.

Und was waren die Hintergründe der Auseinandersetzung um den Film „Geschlossene Gesellschaft“?

1978 war ein Nachschlag zum falsch verstandenen Helsinki-Kurs. Zum Korb III: zur Anmahnung der Menschenrechte in den „real“-sozialistischen Ländern. Nach dem IX. Parteitag der SED wurden Hoffnungen zerstört, welche die Intelligenz mit dem VIII. Parteitag verbunden hatte. Es kam zu allen möglichen Komplikationen, auch bei der DEFA und beim Fernsehen. Hinzu kam: Nach der Biermann-Ausbürgerung war die Intelligenz gespalten. Es gab Listen für Biermann und gegen Biermann. Werner Lamberz, damals mein zuständiger Sekretär aus der SED-Führung und für das Fernsehen verantwortlich, fuhr die taktische Linie, zu verhindern, daß von den namhaften Leuten jemand nach dem Westen ging oder sich mit Appellen an die westliche Öffentlichkeit wandte, z. B. an „Die Zeit“; die war damals das bevorzugte Presseorgan der Intelligenz der DDR. Deshalb waren die Machthaber noch vorsichtig. So kam dieser Kurs zustande. Das Manuskript „Geschlossene Gesellschaft“ von Poche war sehr anspruchsvoll und in seinen künstlerischen Bildern nicht allen Leuten ohne weiteres verständlich. Aber das Entscheidende wurde erkannt: Daß die äußeren Widersprüche des Sozialismus sich hineinzogen in die innere Welt der Familien, der menschlichen Beziehungen. Im Mittelpunkt des Films ein Ehepaar, das dies alles eindruchsstark zum Ausdruck bringt: Es hat das Gefühl völliger Auswegloskeit und weiß eigentlich gar nicht, warum.

Bekanntlich fiel der mysteriöse Tod von Lamberz in diese Zeit. Veränderte sich etwas in bezug auf dieses Projekt?

Die Verunsicherung wurde größer. Die Abnahme des Films stand bevor, und die Nervosität stieg. Das hervorragende Spiel von zwei Weltstars, Jutta Hoffmann und Armin Müller-Stahl, hatte große Wirkung. Es ging auch diesen Leuten unter die Haut, die den Film abnahmen. Sie fanden ihn ganz doll, meinten aber, zeigen dürfen wir ihn nicht. Und sie nahmen es zum Anlaß, wieder einmal die Weichen umzustellen. Es gibt ja die Politbüroprotokolle darüber; skeptisch wurde wieder einmal mein Werdegang unter die Lupe genommen. Und es wurde wiederum die Frage gestellt, was der Bentzien denn da tut. Der macht ja dasselbe, was er damals im Kulturministerium gemacht hat. Also dieses persönliche, immer latent vorhandene Mißtrauen. Und dazu die Beobachtung durch die Staatssicherheit, die war ja immer da.

Durch den Helsinki-Prozeß hatte sich in den 70er Jahren vieles für die DDR verändert. Wie hatte sich im Vergleich zum verheerenden Klima des 11. Plenums die geistige Atmosphäre verändert?

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten dieser Jahre, daß zwar bis zur Erschöpfung diskutiert wurde, die Konsequenzen aber milder ausfielen. Die Anwürfe drehten sich häufig im Kreis. Das heißt leider nicht, daß die Auseinandersetzungen geistig und moralisch ohne negative Folgen waren. Es blieb immer etwas übrig von solchen Affären. Manch ängstliches Gemüt, das sich Verdächtigungen nicht aussetzen wollte, beschloß im stillen, weniger zu wagen. Darin lag der eigentliche, der verderbliche „Erfolg“ der Drangsalierung. Ständiger Druck auf Gemüt und Gewissen und die falsch verstandene Parteidisziplin bewirkten, daß weniger Engagement für Erweiterungen des Spielraums für die Kunst zu spüren war. Mancher zeigte Lustlosigkeit, ja Lethargie, wenn es um persönlichen Einsatz gehen mußte. Aber in den 70er Jahren zeigte sich auch eine andere, eine erfreuliche Tendenz. Bei vielen hatte sich das Selbstbewußtsein gestärkt, und so war Knebelung nicht mehr so einfach.

Noch einmal ein Zeitsprung. Nach dem 11. Plenum wurden Sie von Ihrer Funktion als Kulturminister abgelöst und hatten sich im Verlag Neues Leben zu bewähren. Sie machten unmittelbare Erfahrungen mit dem Literaturprozeß. Das war noch in den 60er Jahren. Heute scheint die Literatur, die Belletristik, einschneidenden Veränderungen unterworfen. Hat die Literatur unter den Bedingungen von dominanter werdenden elektronischen Medien, aber auch der wachsenden Kommerzialisierung des Literaturbetriebs noch eine Zukunftschance? Hinzu kommen häufige Angriffe aus den Feuilletons gegen die engagierte Literatur, weil sie angeblich eine veraltete „Gesinnungs-Literatur“ sei.

Die Literatur dieses Jahrhunderts steht, soweit sie große Literatur ist, unter sozialistischem Vorzeichen. Und die, die nicht unter dem Vorzeichen sozialer Gerechtigkeit steht, beschäftigt sich auf jeden Fall damit, direkt oder indirekt. Deshalb ist diese Verteufelung der DDR-Literatur und ihrer Autoren ein Generalangriff auf die sozialistische Idee. Denn die Strategen, die das steuern in den Feuilletons, die wissen natürlich ganz genau, was ein gutes Buch ist, und sie wissen ganz genau, daß ein Schriftsteller sich nicht aus der Gesellschaft heraushalten kann. Sie gehören zu denen, die die DDR noch nachträglich geistig abrüsten sollen. Der Angriff gegen die Autoren, ich will jetzt keine Namen nennen, sie sind ja alle bekannt, ist folgendermaßen zu verstehen: Das Werk dieser Leute ist im Westen kaum bekannt, nur bei der Germanistenschicht, beim gebildeten Bürgertum. Die DDR aber betrachtete die Literatur, da sie selber sich so verstand, als einen Teil der Aufklärung, was ja nichts Schlechtes ist. Diese Aufklärung wird heute als verderblich angesehen, weil sie mit dem sozialistischen Gedanken verbunden ist. Mit anderen Worten: Die Kritiker in den westdeutschen Feuilletons versuchten gerade das zu verhindern, wozu der damalige Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, die Intellektuellen aus der DDR eingeladen hatte: nämlich sich und ihre geistig-kulturellen Leistungen in die deutsche Einheit einzubringen. Darum werden Nebelkerzen geschossen. Diese sollen das ganze geistige Umfeld verdunkeln, das betrifft ja nicht nur die Literatur, sondern auch die Malerei. Alle, die in der DDR sehr gute Maler waren, werden verdächtigt als „Partei-Pinselschwinger“ o. ä. Statt dessen werden die „Dreiecks- und Quadratmaler“ gelobt, die diese Flächen mal rot oder grün malen und darin den großen künstlerischen Unterschied sehen.

Dieser Angriff wird sich dann beruhigen, wenn die Widersprüche in dieser Gesellschaft so stark werden, daß es die Schriftsteller drängt, sie aufzuschreiben. Das ist noch nicht der Fall. Die Schriftsteller aus dem Osten haben sich noch nicht zurechtgefunden. Sie haben ja zum großen Teil die Wende mitgemacht. Ich denke da an die Rede von Christa Wolf auf dem Alex. Auch war ein ganz großer Fehler, Angst zu haben vor dem Aufruf, den Heym, Wolf und andere verfaßt hatten, „Für unser Land“, nur weil sich da ein paar Stasi-Leute angeschlossen hatten. Da hätte man genauer abtrennen können. Das wäre natürlich das Manifest gewesen! Die Schriftsteller leiden unter den Veränderungen des Verbandslebens. Seit der Wende haben sie sich gegenseitig gefragt, was sie in der oder jenen früheren Versammlung gesagt haben. Daran kann man sich blendend jahrelang aufhalten und alles durcheinanderbringen. Der PEN ist faktisch nicht mehr existent. Das ist so gewollt. Ob Frau Lea Rosh in dem PEN Mitglied ist oder aus dem Vorstand austritt, oder andere, das ist völlig uninteressant für die Literatur. Wen interessiert das? Die Literatur auf keinen Fall. Ob ein Mann, er war ja Autor in unserem Verlag, jetzt ein Kompendium schreibt über die Verwicklung von Schriftstellern oder sonstigen Leuten mit der Staatssicherheit, das bewirkt nichts. Es rüstet höchstens potente Leute ab, und zwar nicht nur die, die da als IMs genannt werden, sondern auch Leute, die sagen: Soll ich mich heute überhaupt noch zu gesellschaftlichen Dingen äußern?

Immerhin. Christa Wolf ist nicht verstummt. Sie hat sich geäußert. Sie hat neue Werke vorgelegt: „Auf dem Weg nach Tabou“ und „Medea“.

Außer Frage, aber die Warnungen überschwemmen uns. Sie können auch lähmen. Ich wünschte, es würde eine kämpferische Truppe entstehen, wie die Herweghs und Freiligraths, die Vor-Achtundvierziger, die die Fragen aufs Panier schreiben. Die Gestaltung unserer Zeit wird abhängen von der Explosion der Widersprüche. Wir stehen ganz sicher vor einer großen gesellschaftlichen Erschütterung. Diese Hilflosigkeit, die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen. Das kann nicht gut gehen in der Gesellschaft! Neulich gab es einen Empfang der Deutschen Bank in Frankfurt/Oder. Der Mann von der Deutschen Bank, der da gesprochen hat zum Neujahrsempfang, hat eine Analyse gegeben, die hätte von Karl Marx sein können. Er hat gesagt, diese Gesellschaft produziert nichts mehr, macht nichts mehr, hat keine Ideen, ist nicht mehr innovativ, beschäftigt sich nur noch mit dem Geldverdienen. Ich denke, der Mann hat recht. Selbst solche Leute wissen, daß es nicht so weiter geht. Wie Brecht sagte: So wie es ist, wird es nicht bleiben. Nur, daß die Literatur und die Kunst dabei eine Vorreiterrolle oder eine entscheidende Rolle spielen, kann man nicht sagen. Heute wird ja schon von den drei Losungen der bürgerlichen Gesellschaft „Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit“ das Wort „Gleichheit“ wie ein Schimpfwort benutzt. Da wird man des sozialen Neides verdächtigt, wenn man für Gleichheit vor dem Gesetz und in der Gesellschaft eintritt. Und keiner steht auf und schreit zurück.

Das letzte Kapitel Ihres Buches „Meine Sekretäre und ich“ heißt „Unruhestand“. Wie groß ist diese Unruhe? Was ist von Hans Bentzien in nächster Zeit zu erwarten?

Ich habe eine wöchentliche Kolumne im Rundfunk, Antenne Brandenburg - über brandenburgische Geschichte. Wir haben jetzt ein kleines Büchlein daraus gemacht, einfach, um die Leute ein bißchen einzuspielen. Wenn man z. B. nach Steinhöfel geht, muß man eigentlich wissen, daß da ein Schloß steht, das von bedeutenden Leuten gebaut worden ist, wer die Gärten angelegt hat, die wir alle vernachlässigt haben, weil sie angeblich keine Funktion mehr hatten. Ich will etwas aus der Geschichte erzählen, auch über das Zusammenleben zwischen Deutschen und Polen. Es gibt Interesse an meinem Buchmanuskript über Stauffenberg. - Ich mache mit, wenn ich gebraucht werde. Ich bin im Kultur-, Bildungs- und Sportausschuß hier im Kreis, weil ich der Meinung bin, jeder muß etwas unentgeltlich für die Gemeinschaft tun. Sonst kann sie nicht funktionieren. Und wir passen auf, daß der Jugend und dem Sport das Geld nicht entzogen wird. Stauffenberg meinte, in schwierigen Momenten sollten Leute mit Können und Charakter bereitstehen. In diesem Sinne kann man immer politisch aktiv sein.

Das Gespräch führten Helmut Fickelscherer
und Jürgen Harder

Hans Bentzien: Meine Sekretäre und ich.
Verlag Neues Leben, Berlin 1995, 351 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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