Eine Annotation von Bernd Heimberger
Stern, Carola:

Isadora Duncan und Sergej Jessenin
Rowohlt. Berlin Verlag, Berlin 1996, 172 S.

Wie kommt, wie geht das zusammen? Wie also Carola Stern, die energische politische Publizistin, Autorin der ersten Ulbricht-Biographie, in einem Atemzug mit Isadora Duncan, der exzentrischen amerikanischen Tänzerin, und Sergej Jessenin, dem egozentrischen russischen Dichter, nennen? Die tragische Duncan und der Tragiker Jessenin, durch einen Unglücksfall beziehungsweise durch Selbsttötung aus dem Leben geschieden, waren für die Presse der zwanziger Jahre ein Paar, das für Schlagzeilen sorgte. Das Aufeinandertreffen beider Personen glich einem gleichzeitigen Auf- und Abprall. Die Anziehungskraft, die in einer Kollision mündete, zog auch Carola Stern magisch an.

Die Beziehung Duncan-Jessenin war die Begegnung der amerikanischen Städterin mit dem russischen Bauern, des Westens mit dem Osten, der modernen mit der traditionellen Kultur. Es war der Zusammenstoß zweier Temperamente und Welten. Was die betroffenen Beteiligten erlebten ist leinwandwürdig, obwohl keine regenbogenfarbige Love-Story. Stern hat der Duncan-Jessenin-Story das Schillernde genommen. Die Autorin spricht von einem „Liebesdrama“, das sich zwischen einer Mittvierzigerin und einem 17 Jahre Jüngeren abspielte, der auf den gemeinsamen Fotos aussieht wie der Sohn der Geliebten. Das Drama beginnt im Herbst 1921 während eines Atelierfestes in Moskau.

Die nicht nur ruhmsüchtige Abenteurerin Duncan wollte im revolutionierten Rußland ihren Traum von der Kunst wahrmachen: einer Tanzkunst für die Massen, ohne Kommerz. Keine Traumtänzerin, war die Berühmte doch eine Phantastin, eine Illusionistin, eine Missionarin. Carola Stern läßt der von Zeitgenossen häufig als Madame Scandaleuse dargestellten Duncan Gerechtigkeit widerfahren, indem sie Stärken und Schwächen der engagierten emanzipierten Lebenskünstlerin hervorhebt. Die Dominanz der Duncan war unvereinbar mit der wachsenden gesellschaftlichen Despotie der Sowjetbürokratie und der jugendlichen Despotie des Dichters, dem die Verfasserin Frauenfeindlichkeit und Liebesunfähigkeit nicht nur unbelegt nachsagt. Für Stern ist die Liebesgeschichte Duncan-Jessenin die Leidensgeschichte eines „ungleichen Paares“. Die absolut aberwitzige Abhängigkeit war die eines wechselseitigen Aufbegehrens und Unterwerfens. Es war eine Beziehung in der Zeit des Zerfalls des alten Rußlands und des Aufbaus Sowjetrußlands.

Das Spannungsverhältnis Duncan-Jessenin im Verhältnis der Spannungen der Zeit zu zeigen ist für die Autorin wesentlich gewesen. Ein privates Drama wird im Umfeld der politischen Dramatik gesehen. Das gibt dem Buch Isadora Duncan und Sergej Jessenin. Der Dichter und die Tänzerin ein eigenes Gewicht, das auch eine Reaktion auf reichlich Lektüre ist, die fleißig zitiert wird. Keine ehrgeizige Prosaistin, hat die Publizistin die Paargeschichte genutzt, um eine unpolemische Zeitgeschichte zu verfassen, die nicht nur Rückschlüsse auf die zwanziger Jahre zuläßt. Gesagt wird manches über Gemeinsamkeiten und Gegensätze von Welten, die Amerika und Rußland heißen. Gegensätze, die sich anziehen?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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