Eine Annotation von Bernd Heimberger
Hilbig, Wolfgang:
Abriß der Kritik
Fischer Taschenbuch Verlag,
Collection S. Fischer,
Frankfurt/M. 1995, 112 Seiten

Macht Wolfgang Hilbig den Mund auf: Ach, na ja ...! Hilbig drängt nichts, er drängt sich nicht in die Reihe der Rhetoriker. Liest Wolfgang Hilbig, liest er lebhaft, solange die Texte keine Länge haben, wenn sie schnell wechseln. Auch Lesen ist Hilbigs Last. Er entlastet sich, wenn er schreibt. Lyrik, die zum Besten der deutschen Sprache der letzten Jahrzehnte gehört. Prosa, die zum Besseren gehört, was derzeit an Prosa in Deutschland erscheint. Hilbig ist nie schlecht, wenn er schreibt. Er hat für seine Gedanken immer Geschichten. Deshalb kommt ihm das Literarische in der Literatur nicht abhanden.

Hat Hilbig es nötig, der so stabil und stark in der Literatur ist, sich zum Sprecher der Literatur zu machen? Indem er über die Literatur als Ganzes, das Literarische an sich, über Literatur allgemein und in seiner Eigenschaft als Autor spricht? Aus eigenen Stücken hätte sich der Schriftsteller vermutlich nicht geräuspert. In der Folge der Frankfurter Poetikvorlesungen war nun der „gesamtdeutsche“ Sachse im Sommersemester 1995 an der Reihe. Unverändert informiert der Verlag über ihn mit dem Vermerk: „Lebt seit 1985 in der Bundesrepublik.“ Kein Übel. Hilbigs Vorleben in der DDR liefert ihm das Vergleichsmaterial, das manchen Mitrednern in Sachen deutscher Literatur fehlt. Also hatte Hilbig auch etwas zu sagen, als er sich darauf einließ, die Kritik der Literatur engagiert ins Gespräch zu bringen. Kritik, die es angeblich in der DDR so wenig gab wie die Werbung, da ohnehin alles verkauft wurde. Kritik, die in der „ehemaligen“ Bundesrepublik zu einer Enklave des verkaufsstimulierenden Feuilletons wurde. Der Kritik-Analytiker fragt: Existiert Kritik als Kritik überhaupt? Was vermag Kritik, die Literatur zur Marginalie im Leben macht? Was will sie noch? Was soll sie? Was kann sie? Schlimm ist der „Wortschwall“, der die Schreiber schmerzhaft trifft. Ungeachtet der Verletzungen empfiehlt Wolfgang Hilbig nicht, den Rezensenten totzuschlagen, was weiland der Geheimrath in Weimar für die Lösung hielt. Hilbig will kein „Leben ohne Literaturkritik“. Er will das Leben und nicht das Reden über Leben - auch in der Literaturkritik. Das heißt, er wehrt sich gegen die Attacken der Kritik, die, wie einst Alfred Kerr, den Autor zwischen römisch Fünf und Sechs ermordeten. Wolfgang Hilbig ist kein Schreihals. Er ist ein stiller Streiter, der entschieden gegen die Mord- und Totschlag-Mentalität zwischen Literatur und Kritik opponiert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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