Eine Annotation von Horst Wagner
Reiher, Ruth (Hrsg.):
Mit sozialistischen und anderen Grüßen
Porträt einer untergegangenen Republik
in Alltagstexten.
Aufbau-Verlag, Berlin 1995, 303 S.

Wer sich erinnern oder erst einmal erfahren will, wie in der DDR ein Mietvertrag oder ein Rentenbescheid aussah, was so in Schulaufsätzen geschrieben, in Jugendweihereden gesagt, in Brigadetagebüchern protokolliert oder im Parteilehrjahr propagiert wurde, dem bietet dieser Sammelband 300 authentische Dokumente, über die man schmunzeln oder staunen, die man belanglos oder erschütternd finden kann. Die ausgewählten Beispiele umfassen alle Abschnitte des Lebens von der Geburt über die Hochzeit bis zum Tode, viele Bereiche der Gesellschaft von Kindergarten und Schule über den Arbeitsplatz, die Parteien und Organisationen bis zur Veteranenbetreuung. Sie umschließen einen Zeitraum von 1952 (Arbeitszeugnis) bis Anfang 1990 (Austrittserklärung aus der SED/PDS). Da es sich zumeist um behördliche Dokumente oder um den Verkehr von Bürgern in oder mit mehr oder weniger offiziellen Einrichtungen (einschließlich Schule und Betrieb) handelt, kann der von der Herausgeberin Ruth Reiher, Professorin für Sprachwissenschaft an der HUB, im Vorwort gestellte Anspruch, „die Alltagssprache von 17 Millionen Menschen“ zu erfassen (S.9), schwerlich erfüllt werden. In einer Eingabe oder einem Brigadetagebuch wurden eben doch andere, mehr der offiziellen Sprachregelung entsprechende Formulierungen gebraucht als am Familientisch. Und auch in Arbeitsberatungen und selbst in Parteiversammlungen dürfte es oft offener zugegangen sein, als in Protokollen nachzulesen. Am erfreulichsten von den systemgeprägten Stereotypen abweichend sind da noch die Kabarettexte von Distel und Herkuleskeule. Nachdenkenswert auch, wie wohltuend originell und anschaulich sich einige Dokumente aus kirchlichen Einrichtungen von den zumeist stereotyp-phrasenhaften aus anderen, „staatsnäheren“ Bereichen abheben. Alles in allem zeigt das Buch ein Alltagsleben außerhalb von Stasibespitzelung und Mauerschüssen, in dem manches erfreulich, manches ärgerlich und vieles „ganz normal“ war. Verklärung zu verbreiten oder Nostalgie zu fördern, ist es sicher nicht geeignet. Macht es doch gerade auch Dinge deutlich, an denen dieser Staat DDR zugrunde gehen mußte. So, wenn die telegraphische Bitte, doch dringend aus Berlin Tomaten mitzubringen (S.160), oder die Eingabe an den Hallenser Oberbürgermeister wegen nicht aufzutreibender Halogenlampen für Wartburgscheinwerfer (S. 175) den auf wirtschaftlicher Ineffektivität beruhenden allgemeinen Mangel als eine „Todesursache“ in Erinnerung ruft. Mehr noch, wenn die dümmlich-arrogante Reaktion von DDR-Funktionsträgern zum Beispiel auf die Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“, sie würden „dem Friedenswillen der Bürger unseres Staates zuwiderlaufen“ (S. 111), oder die dogmatische Beschränktheit, die zum Verbot des Kerndl-Stückes „Der Georgsberg“ am Maxim Gorki Theater führte (S. 264/272), noch einmal erhellen, warum sich schließlich immer mehr Menschen von einem Staat abwandten, in den sie doch einmal Hoffnung gesetzt hatten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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