Eine Annotation von Gudrun Schmidt
Pfeiffer, Hans:
Der Zwang zur Serie
Serienmörder ohne Maske.
Ein Tatsachenbericht.
Militzke Schulbuchverlag, Leipzig 1996, 239 S.

Das ist keine spannende Lektüre, wo der Leser durch eine aktionsreiche Handlung in die Aufklärung des Verbrechens gleichsam mit einbezogen wird. Die Fälle, die hier verhandelt werden, sind längst gelöst. Die Täter überführt. Spannend ist der Report dennoch, auch wenn man ihn nicht hintereinander lesen mag. Unvorstellbar grauenhaft sind die Morde, über die Hans Pfeiffer in dem Tatsachenbericht Der Zwang zur Serie reflektiert. An elf authentischen Kriminalfällen von Mitte des vorigen Jahrhunderts bis in die Gegenwart versucht er Motive, Ursachen zu ergründen, die den Täter immer wieder dazu treiben,“ in Serie“ zu morden. Persönliche Äußerungen, zeitgenössische Berichte, Gerichtsprotokolle, Gutachten von Psychologen und Gerichtsmedizinern bilden den Hintergrund. Mit der Einteilung in vier Kapitel - Mord aus Habgier, sozialem Frust, Fetischismus und sexueller Perversion - folgt der Autor den wesentlichen subjektiven Motivationen der Täter. Aber deutlich wird bei aller Verschiedenartigkeit der Fälle immer ein komplexes Geflecht von Ursachen. Gefragt wird ebenso nach begünstigenden gesellschaftlichen und sozialen Ursachen. Bezeichnend auch, daß zu Opfern vor allem die Schwächsten der Gesellschaft wurden: Kinder und Ausgegrenzte - Obdachlose, Bettler, Prostituierte.

William Hare und William Burke konnten vor 170 Jahren in Edinburgh mit Mord und aus dem Verkauf von Leichen eine ersprießliche Nebeneinnahme erzielen, weil ein „Markt“ vorhanden war. Ihre „Ware“ war gefragt, so lange mittelalterliche Gesetze anatomische Studien behinderten. Erst 1832 wurde das Sektionsverbot in England aufgehoben. Die Gier nach Geld und Reichtum trieb den Arzt Dr. Marcel Petiot zum Verbrechen. In einem perfekt inszenierten Doppelleben hat er über viele Jahre während der faschistischen Besetzung Frankreichs das Vertrauen reicher jüdischer Menschen ausgenutzt, sie eiskalt und brutal ermordet, anstatt ihnen zur Flucht zu verhelfen. Was zählte in jener Zeit schon ein Menschenleben? Großes Aufsehen erregte in den achtziger Jahren in Amerika der Fall der Marybeth Tinning. Der Kindestötung in acht Fällen hat sie sich schuldig gemacht. Mord, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, sich für Demütigungen und Enttäuschungen zu rächen? - Für das Handeln der psychisch kranken Frau wurden viele Gründe gesucht. Daß die Tragödie ein solches Ausmaß annehmen konnte, lag aber auch im gesellschaftlichen Gefüge. Eine Mutter, die ihre eigenen Kinder durch Ersticken tötet, paßt einfach nicht in das Bild einer liebenden und fürsorglichen Mutter, wie es die Gesellschaft erwartet. Über viele Jahre konnte sich Marybeth Tinning so darstellen. Geschickt verstand sie es, Ärzte, Ermittler, die Öffentlichkeit zu täuschen.

Eine Serie von Morden löst Angst und Entsetzen aus. Aber die Täter entsprechen in den wenigsten Fällen dem Monster, das dahinter zu vermuten ist. Karl Denke, der neben Haarmann und Kürten zu den ruchlosesten Serienmördern Deutschlands in den zwanziger Jahren gehörte, lebte zurückgezogen, galt als gutmütig, hilfsbereit. Hat keiner seiner ehrbaren Nachbarn in der Kleinstadt, wo kaum etwas verborgen bleibt, jemals etwas geahnt, daß ein Kannibale unter ihnen lebte, der akribisch Buch über seine 30 Opfer führte, daß 30 Menschen sein Zimmer betraten, ohne es je wieder zu verlassen? Hat keiner den Verwesungsgeruch gemerkt, der aus der Wohnung kam? Erstaunlich in diesen und in anderen Fällen, wie lange die Täter ungestört ihre blutigen Spuren ziehen konnten. Schlampige Ermittlungen, Behörden, die Verdachtsmonenten ungenügend nachgehen, mangelnde Information und Aufklärung der Bevölkerung begünstigten nahezu alle Fälle.

Das Suchen nach Ursachen für einen Mord entschuldigt den Mörder nicht. Doch von der Gleichgültigkeit bis zur Duldung des Verbrechens ist es oft nur ein kleiner Schritt. Mußten die Ereignisse in Belgien erst eine so dramatische Zuspitzung erfahren, ehe die Öffentlichkeit aufgerüttelt wurde? Die Vorgänge um den Kinderschänder Marc Dutroux zeigen, wie aktuell diese Fragen sind.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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