Eine Annotation von Bernhard Meyer
Meyer, Karen:
Unfallopfer.
Der Weg ins zweite Leben.
Ch. Links Verlag, Berlin 1996. 200 S.

Treffend lautet die Überschrift eines der Unfallberichte dieses Buches: „Es kann jedem jeden Tag passieren, daß er durch einen Unfall behindert wird.“ (S. 92) Es geht um Opfer von Verkehrsunfällen, deren Angehörige oder Hinterbliebene. Die Autorin führt dem Leser bewußt vor Augen, in welche körperlichen, medizinischen, sozialen, juristischen, psychischen, finanziellen, versicherungsrechtlichen Nöte der Betroffene unschuldig von einer Sekunde zur anderen gelangen kann. Allein in Berlin waren 1994 mehr als 20000 Menschen in alltägliche, meistenteils völlig unspektakuläre Verkehrsunfälle mit mehr oder weniger umfänglichen Verletzungen verwickelt, von denen immerhin 149 an den Folgen starben. Darunter 95 sogenannte „schwächere Verkehrsteilnehmer“ wie Kinder und Senioren.

Die Autorin (Jg. 1963) befragte 11 aus einem Verkehrsunfall als behindert hervorgegangene Mitmenschen und deren nächste Angehörige nach dem Hergang des Unfalls und den folgenden Geburtsumständen beim unfreiwilligen Eintritt in das zweite Leben. Was sie hörte und zu Papier bringen mußte, stellt eine schier unendliche Summe von Widrigkeiten und Abwehrreaktionen der Gesellschaft und ihrer Institutionen wie Behörden und Versicherungen gegenüber nunmehr behinderten Menschen dar. Obwohl - nun nicht mehr so häufig genannt - noch immer der einst allen populäre Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ gilt und von immer mehr als etwas völlig Selbstverständliches in Anspruch genommen wird, ist das allgemeine menschliche Mitgefühl und das uneigennützige Helfenwollen für hart vom Schicksal Heimgesuchte in keiner Relation dazu entwickelt. Dem Leser prägt sich über die Erfahrung eines anderen unauslöschlich ein, daß er im Fall der Fälle z. B. gegenüber Versicherungen den Beweis seiner Unschuld und damit die Schuld eines anderen zu erbringen hat, und dies durch jede Menge Zeugen und Gutachten. Verhandlungen über Schadensersatz ziehen sich vor Gerichten über Jahre hin, wobei dem meistens juristisch unerfahrenen Behinderten ausgefuchste juristische Profis der Versicherungsgesellschaften begegnen. (S. 29) Unglaublich die Barrieren des Rechtsstaates für die unfreiwillig und unschuldig in einen Verkehrsunfall mit erheblichen körperlichen Verletzungen geratenen Menschen.

Oftmals von noch erheblicherer Größenordnung ist die persönliche Annahme und irgendwie zu bewältigende Erkenntnis, durch den Unfall in eine gänzlich neue Lebenssituation geraten zu sein: „In dem Moment, wo ich nach der Operation aufwachte, war ich kein gesunder vollwertiger Mensch mehr, sondern ich bin Katagorie zwei der Menschen geworden, nämlich ein Behinderter.“ (S. 27) Anhand zahlreicher Beispiele demonstriert die Autorin den erforderlichen Willen und die andauernde Kraft, die der Behinderte und seine nächste Umgebung für lange Zeit, eigentlich für immer brauchen. Für die neuen körperlichen Anforderungen und die vielfältigen Lebenskonsequenzen besitzen weder der Behinderte noch seine wohlwollende nächste Umgebung irgendwelche Muster und Erfahrungen. Hier hilft nur der nichtversiegende Lebenswille des plötzlich unermeßlich Geforderten.

Den interessant aufbereiteten Berichten hat Karen Meyer eine eindrucksvolle Vorbemerkung vorangestellt, die eigene Betroffenheit und Mitgefühl spüren läßt. Für ihr Buch hat sie Anregungen durch die „Deutsche Interessengemeinschaft für Verkehrsunfallopfer“ (dignitas) erhalten. Ebenso engagiert das Vorwort von Michael Cramer, dem Verkehrspolitischen Sprecher der Fraktion Bündis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin. Seinem Plädoyer für autofreie Innenstädte, Tempolimit und Sonntagsfahrverbot wird folgen, wer im Gegensatz zu einem hemmungslosen Gebrauch des Autos für einen überlegten, die Menschen und die Umwelt schonenden Straßenverkehr eintritt. Abgerundet wird der insgesamt erschütternde Umgang mit Behinderten durch einen „Leitfaden zum Verhalten nach einem Verkehrsunfall“ (S. 187) und einer Auflistung von Kontaktadressen von Hilfsorganisationen. (S. 193) Aber dann ist das Unglück schon geschehen. Wie können Verkehrsunfälle jedoch auf Ausnahmefälle reduziert werden? Diese wichtige Frage bleibt offen -ohne Verschulden der Autorin.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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