Eine Annotation von Bernd Heimberger
Kostenewitsch, Albert:
Aus der Ermitage.
Verschollene Meisterwerke deutscher
Privatsammlungen.
Kindler Verlag, München 1995, 292 Seiten

Müssen wir uns noch darüber unterhalten, wie dumm-denunziativ der Begriff „Entartete Kunst“ ist? Denunziativ-dumm ist der in Gebrauch genommene Begriff „Beutekunst“. Zudem wenn er suggestiv gebraucht wird und nur die Sowjets meint, die sich in den deutschen Arsenalen der Kunst bedienten. Die meisten Kriegsparteien klauten wo und was sie konnten. Häufig wird Kunst, sobald sie über das Atelier hinauskommt, Beute. Kunst wird zur Beute des Kommerz. Verkäufe und Versicherungen bestätigen das täglich. Ohne Verzögerung hat der Kindler Verlag den Band Aus der Ermitage. Verschollene Meisterwerke deutscher Privatsammlungen veröffentlicht. Ob allerdings der Aufkleber „Katalog zur Beutekunstausstellung in St. Petersburg“ Verständigung und Kultur fördert, ist mehr als fraglich. Begriffbarrieren behindern neue Anfänge. Auch die Ausstellung an der Newa ist ein Anfang. Wie das durch ausgezeichnete Kooperation schnell zustande gekommene deutschsprachige Katalogbuch. Da es wenigen wirklichen Freunden der Kunst vergönnt ist, gen St. Petersburg zu reisen, ist das Buch eine Chance der Annäherung an wahrlich Außergewöhnliches.

Was ein halbes Jahrhundert in einem Depot der Ermitage verborgen gehalten wurde, war auch zuvor nicht allgemeines Kulturgut. Aber wer will die in den Gemächern der Sammler Gerstenberg, Krebs und Koehler abgeschirmten Werke Beutekunst nennen? Freuen wir uns also auf die Corots, Courbets und Cézannes, auf die Degas, Delacroixs und Daumiers, die Gaugins und van Goghs, auf die Monets und Matisses, Pissarros und Picassos! So viel, so beachtenswerte, so beachtliche vorenthaltene Kunst gab es noch nie zu sehen. Der Band ist eine Galerie der Geschichte französischer Kunst eines Jahrhunderts, einer Kunstzeit, die generell gut bekannt ist und vertrauter wird durch die Zwischentöne der Petersburger Präsentation. Das Angebot ist einzigartig. Für die Kunst. Für die Öffentlichkeit. Kunst, die abermals zur Beute wird, wenn reprivatisiert? Auch darüber wäre nachzudenken.

Einmalig wird wohl die geschlossene Darbietung der 74 Bilder bleiben, die der russische Kunstwissenschaftler Albert Kostenewitsch mit faktenreichen kulturhistorischen und nicht bevormundenden kunstwissenschaftlichen Texten begleitet. Das Buch wird als ein Beispiel bleiben und kann - im besten Falle - beispielgebend sein. Nichts ist selbstverständlich, was uns staunen läßt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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