Eine Rezension von Friedrich Schimmel

Ein Unglück hat viele Folgen

William Trevor: Mein Haus in Umbrien
Roman.
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Gunkel.
Rotbuch Verlag, Hamburg 1996, 208 S.

Dieser Roman beginnt ganz betulich. Der 1928 in Irland geborene William Trevor, im vorletzten Jahr durch den Roman Felicias Reise einem größeren deutschsprachigen Publikum bekannt geworden, stellt eingangs seine Hauptfigur vor. Genauer: Mrs. Emily Delahunty, eine Engländerin in den Fünfzigern, stellt sich selbst vor. Sie erzählt von der Vergangenheit, denn es gibt ein paar Gerüchte, die über sie im Umlauf sind, und die gilt es zurechtzurücken. So erfährt der Leser, daß sie einst, als sie „noch nicht so wohlhabend war“, als Stewardeß auf einem Schiff gearbeitet hat. Danach vernimmt man einige Sätze des Bedauerns über einige Jahre in Afrika und daß ihr gelegentlich von Männern Geschenke gemacht worden waren. In ihrem Haus in Umbrien, nicht weit von Siena entfernt, führt sie indessen nun aber eine honorige Fremdenpension. Nicht unwichtig ist ihr die Mitteilung, daß sie „Autorin einer Reihe von Liebesromanen“ ist, die sie in ihren mittleren Jahren in diesem Haus geschrieben hat. Auch die Mitteilungen aus verflossenen Kindheits- und Ehejahren fehlen nicht, sind aber nicht sensationell. Die Szene ändert sich, wir sehen Mrs. Delahunty auf Einkaufsfahrt nach Mailand, im Zugabteil einige Mitreisende angestrengt beobachtend. Doch plötzlich wird alles ganz anders, ist die Ruhe, ja Gemächlichkeit der ersten Seiten dahin. Im Abteil explodiert eine Bombe. Während die Erzählerin einigermaßen unbeschadet davonkommt, ergeht es anderen Mitreisenden schlimmer. Es gibt Tote, und außer Mrs. Delahunty überleben im Abteil nur ein amerikanisches Mädchen, die sechsjährige Aimée, deren Eltern umkamen, dann ein alter englischer General, der seine Tochter und den ungeliebten Schwiegersohn verloren hat, und schließlich ein junger Deutscher namens Otmar, dessen Freundin getötet wurde. Schreck und Schock bleiben bei den Überlebenden, die sich schuldbeladen fühlen und nun als Überlebensgruppe die Wochen ihrer Besinnung im Landhaus der Mrs. Delahunty verbringen. Sie alle verbindet Verlust. Bei den „Gästen“ ist der Tod der Nächsten, bei der Hausherrin das Versiegen der Fähigkeit, auch weiterhin erfolgreiche Liebesromane mit Happy-End zu schreiben. Kurios: Sie dachte gerade an den Anfang des nächsten Buches „Ein Meer von Tränen“, als die Bombe explodierte. Doch gedankenlos sitzt sie nicht herum. Aus Erinnerungen, Beobachtungen und Mutmaßungen versucht sie einen Text zu schreiben, der mit dem Attentat, dem Täter, zugleich auch mit den Opfern und Überlebenden zu tun haben soll. Doch nichts Druckreifes gelingt mehr, das Trauma des Unglücks beherrscht alle.

Doch es gibt noch Veränderungen. Zum Beispiel an jenem Tag, an dem der amerikanische Professor Riversmith eintrifft, um seine Nichte Aimèe erstmals zu sehen und abzuholen. Er ist der einzige Verwandte des Mädchens, die am heftigsten leidet. Riversmith kann das Kind nicht kennen, denn vor Jahren schon gab es ein Zerwürfnis mit der jetzt tödlich verunglückten Schwester. Der reichlich unterkühlte und zudem wortkarge Ameisenprofessor bewältigt seine neue Rolle unzureichend. Mrs. Delahunty versucht immer wieder, dem sturen und phantasielosen Einfaltspinsel so etwas wie ein bescheidenes Seelen-, Innen- oder Miterleben abzulocken. Doch der bleibt nahezu unzugänglich, beharrt aber dennoch darauf, die Nichte mit nach Amerika zu nehmen. Nur einmal glimmt kurzzeitig ein Gefühlsschimmer in ihm auf. Beim Anblick der verwaisten Nichte erinnert er sich deutlich jedesmal an das Bild seiner Schwester.

William Trevor erzählt unaufdringlich, sucht den Kontrast zwischen seinen Figuren aus den kritischen Situationen heraus zu motivieren. So lebt der Roman vom Gegensatz der betroffen-erlebend-anteilnehmenden Menschen und dem gefühlskalten Maschinenmenschen Riversmith, der sicher zeitlebens ein Gefangener seiner Holzameisenwelt bleiben wird.

Überhaupt deutet der Roman auf die Grenzen des Möglichen hin. So sucht Mrs. Delahunty selbstquälerisch Antwort auf die Frage, was einen Menschen, Wahnsinniger oder Unhold, dazu bringen kann, „wildfremde Leute in einem Zug umzubringen“. Es gibt keine Antwort, auch kein Täter wird ermittelt. Doch das gehört zu einem gewissen Grauschleier, der über dem Geschehen, das hier erzählt wird, liegt. Nur einmal, beim gemeinsamen Tagesausflug nach Siena, kommt eine Gelöstheit in die tragisch zusammengewürfelte Gruppe. William Trevor flieht nicht in die Sentimentalität, und alles nimmt seinen unvermeidlichen Lauf. Trotz ausdrücklichster Bitten läßt sich Mister Riversmith nicht bewegen, er nimmt die Nichte, die sich schon im Haus in Umbrien einzuleben begann, mit nach Amerika. Dort angekommen, verfügen die Riversmiths, daß das Mädchen in ein Heim gegeben wird. Auch das Schicksal der anderen Figuren bricht jäh ab. Der eine stirbt im Kummer seines Unglücks, der andere ist plötzlich verschwunden.

Und wie ergeht es Mrs. Delahunty? Nachdem sich ihr Haus von den Überlebenden der Zugkatastrophe geleert hat, von der Überlebensgruppe nur ein paar fortwährend quälende Erinnerungen zurückbleiben, kommen wieder Touristen an. Alles wird wieder alltäglich und banal. Es ist, wie es immer war, jeder lebt so sein Leben. Doch im Haus in Umbrien bleibt ein Quentchen Hoffnung zurück. Und das klingt zum Schluß des Romans mit den Worten von Mrs. Delahunty so: „Vielleicht werde ich alt, vielleicht auch nicht. Vielleicht passiert noch etwas anderes in meinem Leben, aber das bezweifle ich. Wenn die Saison vorbei ist, gehe ich selbst zwischen den Sträuchern hindurch und erfreue mich an den Farben, solange sie noch da sind, und an dem Brunnen, solange er noch fließt.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite