Eine Rezension von Horst Wagner

Von der Liebe in den acht Städten, die eine sind

Khushwant Singh: Delhi
Aus dem indischen Englisch von S. Niemann und M. Hielscher.
Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1995, 455 S.

Es ist wie ein Mix aus Kamasutra und Tausendundeiner Nacht, angerichtet mit den Rezepten eines modernen Bestsellers und garniert mit Fakten aus dem Geschichtsbuch. Die Mischung soll Interesse und leichte Lesbarkeit für einen komplizierten, verwirrenden Stoff garantieren. Hat sich doch Singh, einer der meistgelesenen Journalisten und Romanautoren des heutigen Indien, für seinen Roman keine geringere Aufgabe gestellt, als auf rund 450 Seiten die dreitausendjährige Geschichte seiner Heimat- und Landeshauptstadt Delhi darzustellen. Und die Gegenwart gleich mit dazu.

Wer bei moderner indischer Literatur vor allem an die Kunst Rabindranath Tagores denkt, wird vielleicht schon auf den ersten Seiten schockiert sein, einen Absturz in Kolportage oder sogar Pornographie wittern. Läßt sich doch der Ich-Erzähler erst einmal von einer gewissen „Madame Hochnäsig“, einer aus England angereisten Archäologin, (beinahe) verführen, um dann gleich ausgiebig die Bettfreuden mit seiner Geliebten Bhagmati zu schildern, der „Sex-Besessenen für jede Stellung“. (S. 40) Das Buch, so der Autor in einer Art Vorspann, „liest sich vielleicht wie ein ‚Delhi für Männer - gestern und heute‘, aber das soll es nicht sein“. (S. 10) Zumindest ist es mehr. Und wenn man an indische Traditionen auf dem Gebiet der Literatur (Kamasutra) bzw. der bildenden Kunst (z. B. die Tempelskulpturen von Khajuraho oder die Rajastani-Malerei des 17. Jahrhunderts denkt, versteht man, daß freizügige erotische Darstellungen durchaus zur Hochkultur gehören, ja dazu dienen, religiös-philosophische und auch politische Anliegen zu vermitteln.

In seiner Haßliebe zu Bhagmati reflektiert der Ich-Erzähler, „der für Zeitungen schmiert und Mensahibs das Qutb-Minar zeigt“ (S. 336), sein Verhältnis zur Heimatstadt. Mit ihr durchstreift und entdeckt er das heutige, vor allem aber die sieben alten Delhi: Von den Ruinen des sagenhaften Indraprashta über das im 11. Jahrhundert gegründete Qila Rai Pithora mit seinem Qutb (sprich Kutab) Minar genannten Minarett ... bis Shahjahanabad, der Mogulstadt um Rotes Fort und Jama Maghid Moschee. Wobei an die Stelle Bhagmatis bei den Stadt- und Liebes- Erlebnissen gelegentlich andere treten: die schon erwähnte britische Archäologin, eine 16jährige Weihnachtsurlauberin aus den USA, die vernachlässigte, literarisch interessierte Gattin eines indischen Brigadegenerals und manche andere mehr.

Aber diese Streifzüge machen noch nicht mal die Hälfte des Buches aus. Durchwoben sind sie mit mehr oder weniger spannend erzählten Geschichten von mongolischen und persischen Eroberern, von Dichtern und Bettlern, von Mogulen und Mätressen, von britischen Vizekönigen und den Damen an ihrem Hofe. Beklemmend die Schilderungen aus dem Jahre 1857: die Niederschlagung des Sepoy-Aufstandes und das Ende des letzten Großmoguls. Wir lesen vom Bau des achten, des New Delhi zwischen 1912 und 1932, von der Erlangung der Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg und den Kämpfen zwischen Hindus und Moslems. Dramatisch geschildert ist die Ermordung Mahatma Gandhis, der sich für eine Versöhnung der beiden Religionsgruppen eingesetzt hatte, durch einen Hindu-Fanatiker am 30. 1. 1948 in Delhi. Die Erzählungen schließen mit dem tragischen Tod Indira Gandhis, die 1984 von zwei Sikhs aus ihrer Leibwache erschossen wurde.

Es ist ein Buch voller Poesie und Banalitäten, voller Tragik und Witz, voller Schönheit und Grausamkeiten. Ein Buch, das man stellenweise mit Vergnügen, immer aber mit Gewinn liest: Gewinn an Wissen, wozu auch ausführliche Worterläuterungen im Anhang, ein solides Personenregister, mehrere Karten sowie eine Zeittafel in Form eines Lesezeichens beitragen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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