Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Realismus und Imagination

Lisa See: Auf dem Goldenen Berg
Eine chinesische Familie erobert Amerika.
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1996, 576 S.

Dieses Buch ist eine faszinierende Mischung aus Realismus und Imagination. Einerseits werden die Ergebnisse umfangreicher Recherchen dargestellt: die Entwicklung einer sich immer weiter verzweigenden Familie von chinesischen Einwanderern in den USA, in 21 Kapiteln vollzogen. Von der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis zur Mitte der gegenwärtigen 90er Jahre, rund 125 Jahre umfassend. Andererseits wird die Chronik tatsächlicher Vorgänge des Lebens und des Vergehens einer Vielzahl urkundlich nachgewiesener Personen mit der anschaulichen Vorstellung verbunden, die sich die Autorin von ebendiesen Personen gemacht hat. Hierfür wiederum wurden die Erkenntnisse aus Gesprächen mit Zeitzeugen, Mitgliedern der Familie sowie der Lektüre von Dokumenten verwendet.

So sind die Menschen und Verhältnisse, die von Lisa See geschildert werden, nicht Bestandteile eines Romans, sondern weitgehend Abbilder der Wirklichkeit. Das Buch enthält, schreibt die Autorin, „eine Wahrheit, die durch meine Gefühle, meine Erfahrung und meine Recherchen vermittelt ist“. Selbst da, wo sie sich nicht auf gesicherte Fakten stützen kann, sondern schriftstellerische Freiheit walten läßt, legt sie dem Leser die Gewißheit nahe: So kann es gewesen sein. Ja, so ist es mit großer Wahrscheinlichkeit gewesen. Sachbuch und Sage.

Lisa See, im Hauptberuf Korrespondentin von Publishers Weekly, hat rund fünf Jahre daran gearbeitet. Das Ergebnis, fast emotionslos reportiert, mit einem Schuß kühler Ironie und untergründigem Humor angereichert. Deutlich, ohne Prüderie geschrieben, liest es sich fast spannend. Es ist ein Exkurs in den Teil der amerikanischen Geschichte, den Chinesen geschrieben haben, und diesen Teil möchte Lisa See durchaus würdigen, ohne dick aufzutragen. So ist dies auch ein Buch über die kolonisatorische Leistung von Chinesen, die in Kalifornien und anderswo Bahnlinien gebaut, das Land urbar gemacht, Handwerk und Dienstleistungen etabliert, Bier gebraut, den Gemüse- und Obstanbau ebenso wie Geflügel- und Schweinezucht eingeführt haben, ohne daß es ihnen gestattet war, auch nur einen Quadratmeter Land selbst zu erwerben. Es ist ein Buch über Rassismus der Weißen, über Diskriminierung, Leiden, Demütigung der chinesischen Einwanderer, über ihre Solidarität in den Chinatowns, ihren Fleiß, ihr unglaubliches Durchsetzungsvermögen.

Die Autorin entstammt selbst den zwei Familien, die Fong See zum Stammvater haben, dem Bauernsohn aus einem Dorf in Südchina, eingewandert 1871 nach Kalifornien, auf der Suche nach seinem Vater. Der wollte beim Bau der Central Pacific Railroad sein Glück machen. Es gelang ihm nicht. Erst der nachgereiste Sohn, eine erstaunliche Persönlichkeit, gelangte zu Ansehen und Reichtum, etablierte sich als Antiquitätenhändler und Kaufmann auf dem Goldenen Berg, alias USA. Dieser Fong See, der tatsächlich vier Frauen hatte, gründete offiziell - wie legal auch immer - zwei Familien. Die eine mit einer rothaarigen, weißen Frau und fünf Kindern, die andere mit einer chinesischen Frau und sieben Kindern. Es läßt sich denken, welch verzweigter Stammbaum sich daraus ergeben hat, welch große Zahl von Nachkommen ihres Urgroßvaters, also von Lisa See, zu bewältigen war. Das ist scheinbar mühelos gelungen. Selbst die Erwähnung ihres ältesten Vetters zweiten Grades und der Hinweis auf ihre drittälteste Cousine tun dem Lesevergnügen keinen Abbruch.

In einem Punkt allerdings macht sich die Urenkelin des Fong See unglaubwürdig. Sie schreibt von Assimilation der Chinesen in den USA, von Verschmelzung mit der neuen Heimat. Dabei ist Lisa See selbst der lebende Beweis für die Kraft der chinesischen Kultur, für eine unbeschreibliche, ethnische Unzerstörbarkeit, für eigenständige Anpassung, statt Aufgehen im Schmelztiegel. „Obwohl ich nicht chinesisch aussehe“, bekennt sie, „bin ich, wie meine Großmutter, im Herzen Chinesin.“ Die rothaarige Urgroßmutter war eine Weiße, „aber im Herzen war sie eine Chinesin. Sie war mit der chinesischen Seite verschmolzen“. Offenbar bleibt fast jedes Mitglied der beiden auf Fong See zurückgehenden Familien durch unsichtbare feste Fäden mit einer alten Heimat verbunden, die es nie - oder erst spät - kennenlernt.

Ein Beweis hierfür ist die anrührende Schilderung, wie einer der Nachkommen des Fong See die Schriftsprache seiner Ahnen lernt. „Tag. Sonne. Erde. Mond. Das waren Gilberts Schriftzeichen. Wenn man Sonne und Mond kombinierte, erhielt man die neue Bedeutung -morgen ... Als er älter wurde, erkannte er, daß die Schriftzeichen aufeinander aufbauten. Wenn man dem Schriftzeichen für Tür einen Strich hinzufügte, wurde Heim daraus. Fügte man noch einen hinzu, so bedeutete es Ehe ... Mit jedem weiteren Strich änderte sich die Bedeutung und wurde komplexer.“ Auch als der US-Bürger Gilbert erwachsen war, konnte er „sich noch gut an die indigoblauen Lehrbücher erinnern, die in China von Hand gebunden waren. Irgendwie war der Geruch Chinas an den Holzschnittdrucken und dem dünnen Papier haftengeblieben. Gilbert hatte das Gefühl, daß sie nicht nur mit Ohren, Mund und Fingern, sondern auch mit der Nase lernten.“

Saga und Sachbuch, angefüllt mit Geschichte und Geschichten, voller Informationen und zugleich mit dem Herzen geschrieben. Man liest und hat plötzlich die Idee, in den vier Chinatowns von Los Angeles mal nachzusehen, wie es den Nachkommen des Fong See so geht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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