Eine Rezension von Hans-Rainer John

Ein sexistischer Berserker als antibürgerlicher Rebell

Philip Roth: Sabbaths Theater
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz.
Carl Hanser, München 1996, 496 S.

Während einer Autofahrt nach New York zur Beerdigung eines alten Bekannten zieht Mickey Sabbath, 64, die Bilanz seines verpfuschten Lebens. Es war der ständige Traum von Exzessen und Perversitäten, der ihn als Junge zur Seefahrt und in die Arme vieler Huren zwischen Havanna und Bombay getrieben hat. Später war er, künstlerisch begnadet und begabt mit bestechender Rhetorik, Puppenspieler geworden, und er hatte die talentierte, attraktive und sensible Schauspielerin Nikki geehelicht. Aber seine sexuellen Obsessionen machten, daß Nikki das Weite suchte, sie zerstörten sein „Unzüchtiges Theater“, und sie setzten auch seiner anschließenden Dozentenkarriere ein vorzeitiges Ende. Roseanna, seine zweite Frau, hält ihn mit ihrem Lehrergehalt über Wasser, seit er durch eine seine Hände verkrüppelnde Arthritis berufsunfähig wurde, aber seine Ausschweifungen haben sie in den Alkoholismus getrieben. Sonne brachte in Sabbaths Leben nur die temperamentvolle Gastwirtsfrau Drenka, die dreizehn Jahre lang der Gegenstand seiner fleischlichen Anbetung gewesen war. Und nun war die Geliebte an Krebs gestorben, ehe er ihre Geheimnisse überhaupt hatte ausschöpfen können ...

Sabbath beschließt, seinem unnützen Leben ein gewaltsames Ende zu setzen. Zunächst bringt er den Haushalt seines gutmütigen, verständnisvollen und hilfsbereiteten Freundes Normann Cowan durcheinander, der ihn in New York als Gast aufnimmt. Aber die Atmosphäre gutbürgerlicher Wohlhabenheit bringt Sabbath auf - er wütet im Zimmer der Tochter, schläft mit der Aufwartefrau, sucht die Ehefrau zu verführen und läßt am Ende - aus dem Haus hinausgeworfen - eine große Barschaft mitgehen. In seinem Heimatort erwirbt er eine Grabstelle. Gerade, als er sich auf den Suizid vorbereitet, gerät er durch Zufall in den Besitz der Hinterlassenschaft seines geliebten Bruders, der als Zwanzigjähriger im Kriege umkam. Durch Erinnerungen bewegt, lebt er wieder auf. Er fährt nach Hause, findet aber seinen Platz im Ehebett durch einen weiblichen Nachfolger besetzt. Er randaliert, provoziert die Polizei, aber die tut ihm den Gefallen eines „Gnadenschusses“ nicht. So bleibt er schließlich tragikomisch und einsam zurück: unfähig zu leben, unfähig zu sterben.

Die pure Fabelerzählung sagt nichts über das Buch. Sein Sprachfluß ist trotz bewußter Unflätigkeiten meisterlich, die überhitzte Phantasie findet in langen Monologen eine ausgezeichnete Entsprechung, seine blasphemische Suada treibt die Entwicklung voran. Raffiniert ist die Komposition: Wie der etwas zähe Handlungsfluß ständig durch Rückblenden und Meditationen unterbrochen wird, das ist ausgewogen und gekonnt und hält die Aufmerksamkeit wach. Natürlich: Die begrenzte Sichtweise des Helden, der stets hypnotisiert ist von Mund und Möse, von Anus und Penis, engt das Feld ein, aber was an Breite fehlt, wird durch Tiefe aufgewogen. Die psychologischen Prozesse werden präzis und unsentimental erfaßt, die Vorgänge und Erinnerungen lebendig und realistisch wiedergegeben - gewiß eine Frucht genauer Beobachtung und Lebenskenntnis.

Der Autor hält das Verhältnis zu dem Tunichtgut Sabbath ambivalent. Natürlich handelt es sich um einen absoluten Egoisten, der scheinbar über keine Moral verfügt, der keinen Idealen folgt und der nur einer einzigen Leidenschaft fröhnt: dem Rausch der Erotik. Der Puppenspieler ist ein alter Mann mit der Triebstruktur eines Zwanzigjährigen, ein sexueller Berserker, begabt mit klaren Gedanken und ordinär-entlarvender Ausdrucksweise. Ein Draufgänger, der mit Wonne alle Fesseln des Bürgertums abgestreift hat und durch die Gosse fegt, ein groteskes Gegenbild zu seinen korrekten Mitmenschen, ein extremer Außenseiter, ein heruntergekommener Penner. Daran läßt der Autor keinen Zweifel. Aber er macht auch geltend, daß er vieles im Leben hat hinnehmen müssen - Versagen im Beruf, physische Verunstaltung, Schimpf, Schande und Enttäuschugen - und er mildert das Unappetitliche und Niedrige an ihm durch einige rührende Züge, die erhellen, daß sich hinter rauher Schale auch ein empfindsamer Kern verbirgt. Da ist seine verzweifelte Suche nach Nikki, seine leidenschaftliche Liebe zu Drenka, sein tiefer Schmerz über den Verlust des Bruders Morty, und auch das stille Gespräch mit Vetter Fish, dem Hundertjährigen. Das läßt Feinfühligkeit und Anpassungsfähigkeit dort erkennen, wo Sabbath nicht gegen hohle, verlorene Bürgerlichkeit Amok laufen muß.

Ambivalent bleibt möglicherweise auch das Verhältnis manches Lesers zu dem Amerikaner und Juden Philip Roth, geboren 1933 in New Jersey. Denkbar, daß selbst einige, die von Prüderie weit entfernt und ihren Henry Miller längst verinnerlicht haben, empört und verstört sind, in so schonungsloser Offenheit und Ausführlichkeit mit der Darstellung nahezu animalischer Sexualität fast attackiert zu werden. Mir scheint, daß Sabbath und Roth manches gemeinsam haben. Beide werden von Haß gebeutelt, von Verachtung sogenannter bürgerlicher Wohlanständigkeit, beide wollen ihre Mitmenschen von töricht-illusionären Hoffnungen auf Harmonie und Schönheit befreien, beide wollen die Aufmerksamkeit auf den menschlichen Kern lenken, der bleibt, wenn wir nackt und bloß sind: Sex als Rebellion. Roth preist zwar den Sexus als urtümliche Lebenskraft, kritisiert aber im Grunde die Rebellion als töricht und wirkungslos. Hier liegt wohl die moralische Botschaft des Buches, die Roths altes Thema fortschreibt: die Ent- und Selbsttäuschungen in der Liebe, in der Arbeit und angesichts des Todes (Täuschung, Gegenleben, Tatsachen, Mein Leben als Sohn. Operation Shylock).

Wahrscheinlich wurde deshalb Sabbaths Theater zu Recht mit dem begehrten National Book Award ausgezeichnet - auch wenn Marcel Reich-Ranicki bekennt, daß er sich immer noch nicht sicher ist, ob Roth ein wirklich großer Schriftsteller ist. Aber, daß Roth ein außergewöhnlicher, ein hochintelligenter Autor ist, der unbeirrt seinen Weg geht und uns eine Überraschung nach der anderen bereitet, das gesteht auch er ihm zu.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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