Eine Rezension von Waldtraut Lewin

Lituma in den Anden

Mario Vargas Llosa: Tod in den Anden
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1996, 382 S.

Im Original heißt es Lituma in den Anden, nach der Hauptperson des Buches, dem Gendarmenkorporal. Lituma sitzt mit seinem jungen Amtshelfer Tomas auf einem gottverlassenen Posten, in über dreitausend Meter Höhe, abkommandiert zum „Schutz“ einer Straßenbau-Siedlung in einem einstigen Bergarbeiterdorf. Wir sind in Peru. Natürlich geht es um Tod.

Mir wäre der weniger dramatische Originaltitel lieber gewesen. Er zielt mehr auf die Befindlichkeit des Helden, des redlichen, grobgestrickten, klugen, fatalistischen und lebenserfahrenen Polizisten, der, verdammt noch mal, wissen will, was gespielt wird, wenn es ihm jede Nacht an den Kragen gehen kann. Der Titel deutet an, daß es hier um so etwas wie einen Kriminalfall geht.

Drei Arbeiter aus der Siedlung sind spurlos verschwunden. Sind auch sie Opfer der Terrorkommandos des „Leuchtenden Pfades“, die die Gegend praktisch unter Kontrolle haben? Aber der „Sendero Luminoso“ wählt im allgemeinen keine Leute aus dem Volk, um ein Exempel zu statuieren, und vor allem, die „Hinrichtungen“ enden immer so, daß der Tote demonstrativ liegenbleibt. Die drei Männer sind weg, und Lituma will es wissen. Er will es vor allem wissen, weil er sich selbst seines Lebens nicht sicher fühlt.

Während ringsum die fanatischen Extremisten, halbe Kinder oft, Dörfer „säubern“, abstrafen und junge Leute in ihre Reihen pressen, Ausländern die Köpfe mit Steinen zerschlagen und Munitionsdepots plündern, während die ohnmächtigen Regierungsmilizen Gewalt mit Gewalt und Grausamkeit mit Grausamkeit vergelten, erzählt Litumas junger Amtshelfer, eine Mischung von Rambo und Parzifal, ein Junge mit stählernen Fäusten und reinem Herzen, seinem Vorgesetzten Nacht für Nacht seine wundersame Liebesgeschichte mit einer Prostituierten. Tomas' Träume, seine unerschütterliche Passion zu der zwielichtigen Frau, die der Korporal teils kopfschüttelnd, teils amüsiert anhört, werden zu einer Art Stützkorsett für die erschütterte Seele des Älteren. Denn was sich da vor seinen Augen abspielt, hat die Dimensionen reinen Entsetzens und stammt aus den Urtiefen der Menschheit.

Wir leben in Naccos, und die beiden eigentlichen Hauptfiguren der Geschichte, ein dicker fieser Kneipier und seine Hexe von Weib, heißen Dionisio und Arianna. Ariadne auf Naxos, die von Theseus verlassene Königstochter. Dionysos, der Gott der dunklen Ekstasen, des Trinkens und des Außer-sich-seins. Die Metamorphose, die Llosa an ihnen vollzogen hat, als er sie hier in die Anden versetzt hat, ist so radikal und so fürchterlich wie alles in diesem Buch.

Ariadne hat Theseus den Faden gegeben, damit er aus dem Labyrinth herausfindet, nachdem er den Minotauros getötet hat. Donna Arianna kocht ihrem Timoteo, der den „pishtaco“, den Menschenfresser, umbringen will, ein scharfgewürztes Eintopfgericht. Seine eigenen Exkremente werden ihm zum Ariadne-Faden, an dem er sich mittels seiner Nase zurück orientiert.

Dionysos' Mutter Semele, eine Geliebte des Zeus, verbrannte beim Anblick der wahren Gestalt des Gottes. Auch Dionisios Mutter kam durch einen Blitzstrahl vom Himmel um, erfährt man beiläufig. Und wen wundert es, wenn der versoffene und verlogene Kantinenwirt, der den Arbeitern hilft, daß sie durch Alkohol „bei ihrem Tier sein können“, seiner Arianna in der Hochzeitsnacht ein Gestirn schenkt?

Aber was tun sie denn hier in Peru, in diesen Bergen, die alten Götter Europas? Sie sind Gehilfen noch älterer Götter und enthüllen dabei ihren ursprünglichen Charakter: Herr und Herrin der Tiefe, des Opfers, wie es die rasenden Bacchantinnen bringen, wenn sie Menschen hetzen und zerreißen. Arianna weiß alles. Sie weiß sogar von den Ur-Festen in Naccos, als noch die Frauen herrschten und jedes Jahr einen Fest-König dem Universum opferten, damit die Saaten gediehen. Sie weiß, daß die Götter dieser Berge nicht bereit sind, eine Straße zu dulden, wenn man ihnen nicht gibt, was sie seit jeher zur Versöhnung fordern: Menschenblut. Sie weiß es, und sie kann ihren Einfluß geltend machen.

Lituma, das Stück Obrigkeit und gleichzeitig der Repräsentant aufklärerischer Vernunft und gesunden Menschenverstands, steht vor einer Mauer des Schweigens. Die Indios reden nicht mit ihm, der Kantinenwirt und seine Hexenfrau tricksen ihn überlegen aus und machen sich über ihn lustig.

Erst als die Berg-Götter den alles vernichtenden Erdrutsch schicken, der dem Straßenbau-Projekt ein für allemal den Garaus macht, beginnt er Respekt und Vertrauen der Bewohner von Naccos zu erlangen: Er ist nämlich wie durch ein Wunder - oder durch ein Wunder! - inmitten der verheerenden Eis-, Schlamm- und Gesteinsmassen am Leben geblieben. Die Götter haben ihn verschont.

Was ist die Faszination Perus, fragt „Scharlach“, der blonde skandinavische Ethnologe, der den Überfall des „Sendero Luminoso“ in einem leeren Wassertank überlebt hat? Warum kommen die Ausländer hierher, in diese finstere Region der Gefahren und des Todes? Sie kommen, weil man Peru nicht verstehen kann. Im Schweigen der Bergbewohner sind unendliche Tiefen von Geschichte enthalten, menschliches Urgestein, das sich hin und wieder in einem verheerenden Erdrutsch befreit, seit unendlichen Jahren nicht Gesagtes, aber deshalb nicht weniger Lebendiges.

Für Llosas Erzählen gibt es keine Begrenzung innerhalb der Zeit. Ereignisse von heute und gestern fließen in derselben Szene nahtlos ineinander über, der Sprechende ist gleichzeitig Akteur und Zuschauer, die Perspektive wechselt von Satz zu Satz, ohne daß dadurch der dramatische Fluß und der Suspense des Buches unterbrochen würden. Llosa bringt es fertig, aus Raum und Zeit seiner Geschichte ein kunstvolles Maßwerk zu schmieden, gleichsam eine virtuelle Realität vor den Augen des lesenden Betrachters aufzubauen.

Tod in den Anden ist ein Buch von düsterer Größe, es ist chthonisch, schwer, sinnlich, und auch seine Heiterkeit ist nur wie ein Farbfleck auf dunklem Grund. Hier wird nie gepokert, sondern immer Russisches Roulette gespielt.

Zwar kommen Lituma und der junge Tomas mit heiler Haut davon (Tomas findet sogar seine Liebste wieder), die unterm Erdrutsch verschüttete Siedlung wird verlassen, aber vorher erfährt der Korporal noch die ganze gräßliche Wahrheit über die mörderisch-kannibalischen Ur-Vorgänge in Naccos. Diese Wahrheit wird ihm sein Leben lang auf der Seele liegen wie einer der Felsbrocken-Götter der Anden.

Llosa wollte in seinem Land einmal die Regentschaft übernehmen. Der smarte Fujimoro verkündete, den Terrorismus in Peru zerschlagen zu haben. Indes ich dies schreibe, höre ich aus dem Radio von der Geiselnahme in der Japanischen Botschaft in Lima durch die Tupac Amaru.

Nach der Lektüre von Llosas Buch hätte man wissen müssen, was von Fujimoros Ankündigung zu halten war.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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