Eine Rezension von Manfred Lemaire

Um Gangster ist's nicht schade

Jon A. Jackson: Über die Klinge
Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt.
Wilhelm Goldmann Verlag, München 1994, 280 S.

Sergeant Mulheisen von der Mordkommission in Detroit hat eine Menge zu tun mit den Aufräumarbeiten im Fall Big Sid, eines Gangsters, der im Auftrag eines Obergangsters vor seiner Villa erschossen wird. Von einem professionellen Killer. Der erledigt Big Sids Fahrer gleich mit, obwohl dies keineswegs extra bezahlt wird. So können die beiden Opfer, einzige Zeugen in eigener Sache, nicht mehr reden. Safety first.

Gekonnt beschreibt Jackson diesen einleitenden Schlamassel. Danach bleibt noch ein halbes Dutzend zwielichtiger Leute auf der Strecke. Action ist die Stärke des Autors. Jede Situation ist scharf gezeichnet, wird mit knappen Sätzen lebendig gemacht. Das gilt zumindest in der ersten Hälfte des Buches auch für Dialoge, Reflexionen der Handelnden, Bilder von Schauplätzen. Die Schilderung ist dicht, der Leser wird ohne Pause von einer unsichtbaren Schnur gezogen. Jackson beherrscht die schnoddrige Art, läßt vor allem seine Polizisten cool reden, auf die unterkühlte Tour, die auch für andere amerikanische Krimischreiber zum Markenzeichen geworden ist. Die wenigsten Personen werden so beschrieben, daß man sie zu sehen glaubt, doch sie gewinnen Gestalt, indem sie sich auf individuelle Weise äußern. Die Gespräche der Ganoven, an der Grenze zum Slang, wie die der Polizisten sind so artikuliert, daß der Eindruck entsteht: So und nicht anders sagen es die Leute dort. Dem Übersetzer wird also einiges abverlangt. Was er bietet, wirkt gut getroffen.

Offenbar, das wird dem aufnahmebereiten Leser vermittelt, geht es dort in Detroit wie anderswo eben so und nicht anders zu. Die Vereinigten Staaten von Amerika - ein Land, das fortzeugend Böses wird gebären. Zu diesem Ruf (dem die deutschen Lande nachzueifern scheinen) tragen Jackson wie die meisten anderen Autoren seiner Zunft nach Kräften bei. Die erfundene Handlung des Krimis wird zur Widerspiegelung der Realität. Mit einer Ausnahme, die für das Genre zur selbstverständlichen Regel geworden ist: Sergeant Mulheisen - oder wie immer der mal mehr, mal weniger aufrechte Held heißt - und die anderen Cops obsiegen im allgemeinen. Sie bringen mehr Ganoven zur Strecke, als die Statistik erlaubt. Krimis müssen wohl so sein.

Allerdings muß man Jackson zugute halten, daß er den Leser mehr entdecken läßt als nur die Spitze des Eisbergs Kriminalität. Sergeant Mulheisen sagt sich, es sei „ein ungeheures Problem, ein überwältigendes Problem“ zu bekämpfen, „und er sah keinerlei Ausweg“. Im Freundeskreis, beim Essen, artikuliert er, was der Autor meint: „Es geht nicht bloß darum, die Dealer hopszunehmen, den Drogenhandel zu zerschlagen - obwohl das getan werden muß -, sondern es geht auch um Arbeitslosigkeit, schlechte Schulbildung ...“ An dieser Stelle stoppt Jackson seinen Cop und stellt fest: „Er fing an, die sattsam bekannte Litanei herunterzubeten, brach aber ab. Was hatte das für einen Zweck? Die ganze Gesellschaft war in Gefahr, am Rande der Anarchie. Dennoch war er, so entmutigend es auch schien, nicht bereit, klein beizugeben. Immerhin war es seine Stadt.“ Ja, früher konnte man die Probleme noch bewältigen, aber jetzt ... Das ist Quintessenz und unbeantwortete Frage zugleich. So ist es folgerichtig, daß eine friedfertige Frau in Mulheisens Freundeskreis laut über die Notwendigkeit nachdenkt, sich eine Pistole zu kaufen. Der deutsche Leser kann es vielleicht schon nachempfinden.

So ist das Buch gehaltvoller, als es auf den ersten Blick scheint. Dies gilt beispielsweise auch für die Ansichten über den Zustand der großen Städte, aus denen man flieht, wenn es möglich ist. „Diejenigen, die raus konnten, sind raus.“ Sie sind freiwillig an den Rand der Großstadt ausgewichen oder dazu gezwungen worden. „Vielleicht waren es Rassisten, vielleicht haben die Immobilienhaie sie rausgescheucht, aber vielleicht waren es auch ganz gewöhnliche Leute, die ihre Kinder lieber in einer besseren Umwelt aufziehen wollten.“ Autor Jackson, in Detroit aufgewachsen, lebt und schreibt heute in den Rocky Mountains.

So werden auch Sentenzen erklärlich, die in dem Buch wie Wunschvorstellungen ganz gewöhnlicher Leute erscheinen, zu denen sich Mulheisen zählt. Die Kurzform heißt: Um einen toten Killer, Gangster, Ganoven, Dealer ist's nicht schade. Nach einem Blutbad auf offener Straße sagt einer der Cops mit mutmaßlich zufriedenem Blick auf weibliche und männliche Leichen, das sei doch „bloß'n Haufen Dopedealer und Nutten. Sieht für mich so aus, als hätt'n braver Bürger uns allen 'n Gefallen getan.“ Dabei war es in diesem Fall gar kein Befreiungsschlag im Interesse der anständigen Gesellschaft, den ein braver Bürger ausgeführt hat, sondern eine Exekution unter Verbrechern.

Selbstjustiz ist ja seit Jahrzehnten ein nicht zu Ende diskutiertes und keineswegs abgekühltes Thema in den USA. In der Literatur wie auch in Drehbüchern werden die Grenzen zwischen Recht auf Selbstverteidigung und Unrecht durch selbsternannte Richter oder Rächer allzu oft in einer Grauzone gehalten. Jackson tritt in seinem Buch für Law and Order ein. Aus mehreren Stellen aber kann man den populistischen Gedanken, den einleuchtenden Gedanken entnehmen, die Verbrecher aller Couleur sollten sich tunlichst gegenseitig umbringen, dies sei wohlgetan und wohltuend. Solcher Botschaft entspricht der deutsche Titel Über die Klinge recht gut. Für den unbestechlichen Mulheisen aber bleibt jede Tötung ein Offizialdelikt, das er pflichtgemäß untersucht, auch wenn er bei Gangstermord vielleicht meint, es sei schade um den Aufwand.

Jackson kann es nicht lassen, immer neue Personen einzuführen, die für den Gang der Handlung unwichtig sind, sie eher belasten. Er hätte sich auch einige leicht ermüdende Schilderungen sparen können, so von Querelen innerhalb der Polizei und das Rührstück von der plötzlich ausbrechenden Krankheit einer alten Freundin des Sergeanten. Diese Einwände mögen berechtigt oder Geschmackssache sein - lesenswert bleibt das Buch allemal. Und für den Schluß hat sich der Autor einen amüsanten Ausflug aufgehoben. Er führt in den Lagerraum eines kleinen Ganoven, der das große Geld eines Oberganoven kistenweise beiseite geschafft hat und nun nicht weiß, wie er die Millionen bewältigen soll. Es sind zu viele. So jammert der Computerfreak: „Bargeld kann dir ja dermaßen auf den Geist gehen. Ich kann's kaum abwarten, bis wir direkt zu elektronischem Geld übergehen.“ Der kleine Ganove kann's wirklich nicht abwarten - als er erwischt wird, erschießt er sich. Sergeant Mulheisen muß den unappetitlichen Abgang mit ansehen. Insgeheim freut er sich wohl: Wieder einer weniger! Solche Selbstjustiz, die der Polizei noch dazu eine langwierige Untersuchung erspart, ist eine unübertroffen rationelle Lösung.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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