Eine Rezension von Friedrich Schimmel

Aversionen gegen Kaffee

Mark Helprin: Memoiren aus einem ameisensicheren Kästchen
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Heide Steiner.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1996, 495 S.

Der 1947 in New York geborene Mark Helprin wurde bislang durch zwei Erzählungsbände bekannt, von denen der letzte den Titel trug Ein Soldat aus dem Großen Krieg. Das Thema des Krieges scheint Helprin zu interessieren, auch im Romanerstling Memoiren aus einem ameisensicheren Kästchen gibt es ein Kriegskapitel („Der Himmel über Europa“), in dem der Held Oscar Progresso als Jagdflieger über Berlin Messerschmitts abschießt und schließlich über dem Mittelmeer abstürzt. Fliegen, abstürzen, wieder starten und in neue abenteuerliche Gefilde eintauchen, das ist das Grundmuster dieses ereignisreichen Romans. Der achtzigjährige Progresso, eine etwas dubios konstruierte Figur, schreibt seine Memoiren für den kleinen Ziehsohn Funio. Jedes der zwölf Kapitel enthält den Hinweis an Funio (den späteren Leser): „Falls du es noch nicht getan hast, leg bitte die vorhergehenden Seiten wieder in das ameisensichere Kästchen.“ Dieses Kästchen ist ein mystifiziertes Behältnis. Etwas, das es nicht mehr gibt, worin aber der Erzähler seine Erinnerungen aufbewahrt. Eine Art „kleiner Verbündeter“, der daran erinnern soll, daß alles Erlebte, weil es vergangen ist, dahinschwindet.

Abenteuerliebhaber können bei Mark Helprin auf ihre Kosten kommen. Schon die Vita des Oscar Progresso spannt ein: 1904 auf einer Farm am Hudson geboren, muß er bald lernen, hart zuzugreifen. Zehnjährig erlebt er den Mord an seinen Eltern. Was der Leser, der Spannung wegen, erst im letzten Kapitel erfährt. Nach dem grausigen Tod der Eltern ist der Junge nicht mehr zu bändigen. Nichts und niemand vermag den hypermotorisch eingestimmten Burschen mehr zu bremsen. Es passiert viel durch ihn, mit ihm aber auch. Der eher besonnener Prosa zugewandte Leser wird bald bemerken, hier wird ein bißchen heftig drauflosfabuliert und auch recht willkürlich konstruiert. Alles der anhaltenden Spannung wegen. Doch wieder zurück zur Vita des Helden. Er landet, verpackt in eine Zwangsjacke, schließlich in einem Schweizer Sanatorium, um von der argen Höhe seiner Wildheit wieder heruntergeholt zu werden. Dort helfen ihm körperliche Arbeiten ebenso wie gute Beobachtungen, die der Mensch am anderen Menschen auch in solcher Anstalt gut studieren kann. Eines Tages hat er genug gelernt, flieht und findet in den Vereinigten Staaten seinen Job. Den Zweiten Weltkrieg, es wurde schon eingangs erwähnt, erlebt er als zielsicherer amerikanischer Jagdflieger. Die Berichte aus dieser Zeit sind sehr großspurig formuliert, ein süffisant-makaberer „Stolz“ schwingt mit. Der Autor hat es vielleicht von den Veteranen des Krieges gehört, zumindest weiß er genau, daß gerade diese Abenteuer in den Erinnerungen der damals Jungen oder Jüngeren eine feste Platte im Gedächtnis besetzt halten.

Auch nach dem Krieg: Progresso zeigt sich versiert und gewieft in allen erdenklichen Lebenslagen. Viel Geld scheffelt er bei einer Bank, heiratet, selbstverständlich aus Liebe, auch eine Milliardärin. Auf dieser schwindelerregenden Höhe angelangt, muß es bald wieder abwärts gehen. Fast gleichzeitig trennt er sich von Frau und Firma. Und daß der Chef ihn ausgerechnet in den Keller der Bank, also dorthin, wo das schöne Gold lagert, verbannt, hat wiederum beträchtliche Folgen für den Helden und Leser. Aber auch für den Chef. Denn den bringt Oscar um, denn er wird für die Ermordung seiner Eltern verantwortlich gemacht. Folgt die abermalige Flucht, per Flugzeug und mit dem gestohlenen Gold nach Brasilien.

Nur noch ganz begeistert mithaltende Leser verfolgen die weiteren Flüge des Luft-Helden, eine Mischung aus Action und Märchen. So sieht man Oscar mit dem Gold in einem Fluß landen. Der nahe Wasserfall braust gerade so stark, daß die wertvolle Ladung am verschwiegenen Ort begraben werden muß. Nicht aber begräbt Progresso, der ungebremste Abenteurer, seine Träume. Einer geht so: Eigentlich ist ja der Verlust des Goldes gar nicht so schlimm, denn mit weniger Geld lebe es sich viel besser, besonders wenn man ein weises Herz habe. Ein heutiger Tagtraum sonderlich eingestimmter Amerikaner? Eher doch schon jener, die so viel Gold und Geld gebunkert haben, daß sie sich im Labyrinth ihrer Rücklagen nicht mehr zurechtfinden.

Dennoch: Mark Helprin erzählt auch das einigermaßen spannend, von Einbrüchen nachlassender Phantasie abgesehen. Leider bleibt fast alles an der Oberfläche, obwohl die Themen tiefere Dimensionen in der Prosa des Romans vertrügen. Statt dessen pflegt Helprin eine etwas dumpfe Fatalität. Und auf der Brust des betagten Memoirenschreibers lastet anhaltende Schwermut.

Ein Thema oder ein durchgehendes Motiv sei noch erwähnt. Es sind die Aversionen Oscar Progressos gegen den Kaffee. Herrührend aus dem Trauma des Elternmordes, sitzt es von früh an fest im Kopf des Helden. Kaffee, verkündet der Erzähler zuletzt, sei ohnehin „der Handlanger des Bösen“, und böse sei der Kaffee deswegen, weil „er den inneren Rhythmus stört, der es einem Mann oder einer Frau erlaubt, die Schönheit in allen Dingen zu begreifen. Er bringt das Metronom auf Trab, das im Herzen schlummert, bis das Herz loshämmert wie eine entgleiste Lokomotive.“ Kalter Kaffee? Mitnichten. Denn zum Lebens-Resümee des Abenteurers gehörte der Kampf gegen den Kaffee. Und da waren mindestens auch zwei, vermutlich aber weit mehr Morde dabei.

Alles in allem: Die Idee mit dem Kaffee ist ein bißchen märchenhaft, ein wenig mehr aber Spleen. Deshalb paßt das auch zum schaurig-gruseligen Abenteuerstoff, der hier auf vielen Bahnen fliegt und von der An- und vor allem Abwesenheit dieses weltweiten Gesöffs lebt. Das Kaffee-Motiv versöhnt auch den Kritiker, denn Kaffee wird emsig überall auch weiterhin getrunken werden. Sicher auch von Mark Helprin, während er gerade am nächsten Roman sitzt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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