Eine Rezension von Hans Aschenbrenner

„Unerhörter Gottesdienst“

Friedrich Christian Delius:
Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Rowohlt Verlag, Reinbek 1994

Am Ablauf eines Tages will uns der Autor Wesentliches aus seiner Kindheit vermitteln. Spektakulär ist der Tag schon, den er dafür auserkoren hat. Es ist jener 4. Juli 1954, an den sich viele der Älteren noch erinnern, vor allem, wenn sie damals die Rundfunkübertragung des Fußballweltmeisterschafts-Endspiels aus dem Berner Wankdorf-Stadion hören konnten.

Der elfjährige Pastorensohn, sein Zuhause ist in dem hessischen Dorf Wehrda, wird an diesem 4. Juli zunächst einmal geweckt wie an jedem Sonntag: vom Lärm der Kirchenglocken, die eine Viertelstunde lang nur eine (eine = kursiv) Botschaft einläuten: Du sollst den Feiertag heiligen!

Delius schildert bis in kleinste Details hinein den Familien- und den dörflichen Alltag, wie er ihn in seinen Kindheitsjahren allsonntäglich in etwa gleicher Weise erlebt. Es ist im Grunde ein behütetes, nach außen hin abgeschottetes Leben, auch mit allen seinen Schattenseiten. Was ist an diesem Tag nicht alles verboten - und was hingegen erlaubt. In den Bereich des ersteren gehören unter anderen Räuber und Gendarm und ähnliche Gruppenspiele in Scheunen, auf Straßen und Feldern; toben und streiten; das Hämmern und Sägen an der selbsterbauten Holzhütte neben dem Hühnerstall; Hausaufgaben machen, ja selbst ein rascher Blick am Sonntagabend ins Lateinbuch; Lederhosen tragen; Fahrradfahren vormittags zur Gottesdienstzeit; Fußballspielen auf dem Hofe oder Kirchplatz vormittags der Sonntagsruhe, nachmittags der Sonntagskleider wegen. Erlaubt hingegen sind - in Parallelität dazu - Spiele in Zimmern; sitzen in besagter Hütte; lesen anderer Bücher; Manchesterhosen; fahrradfahren nachmittags; auch der Gang zum Sportplatz, wo die Erste Mannschaft des Fußballclubs Wehrda jeden zweiten Sonntagnachmittag ihre Spiele austrägt.

Der Leser spürt förmlich, wie sehr alle diese Regeln in dem Elfjährigen verwurzelt sind, die ihm „beschämend einsichtig schienen“, weil er „mit ihnen verwachsen, in sie hineingewachsen war“. Und zu spüren ist genauso, wie er des Sonntags dennoch forttaucht „von all den gewöhnlichen Gefangenschaften der Woche“, sich auf die Erleichterungen freut, „obwohl auch dieser Tag abgesteckt war von milderen Drohungen und Geboten, Gebeten und Regeln, die schon am Sonnabendnachmittag anfingen“, wenn er mit seinem Bruder „für fünf Groschen Taschengeld Straße und Hof zu fegen hatte“. Es sind wahrlich nicht die unbeschwerten Momente seiner Kindheit, die in der Erinnerung des Autors festen Platz gefunden haben.

Aber da ist an diesem Sonntag ja auch noch das besagte, mit Spannung erwartete Endspiel, auf dessen Eventualitäten immer wieder Bezug genommen wird, ganz gewiß auch, um so autobiographische Aussagen und an diese geknüpfte „Botschaften“ für den Leser noch deutlicher hervortreten zu lassen. Endlich dann die Radioansage: „Hier sind alle Sender der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins, angeschlossen Radio Saarbrücken. Wir übertragen ...“

Auf den 30 letzten der 119 Seiten integriert der Autor seine Geschichte unmittelbar in Herbert Zimmermanns Reportage aus dem Wankdorf-Stadion. Sie wird für ihn zu einem „unerhörten Gottesdienst“. Zum ersten Male darf er eine Fußballreportage hören, und immer öfter fallen Wörter, die nichts mit Fußball zu tun haben: „Wunder“, „Gott sei Dank!“, „So haben wir alle gehofft, gebetet!“ (bitte jeweils kursiv, ohne „...“) - und er staunt, daß der Reporter das Wort „glauben“ (kursiv) mit mehr Inbrunst als ein Pfarrer oder Religionslehrer aussprechen kann. Formulierungen wie „Deutsche Nationalelf will den Himmel stürmen“, „Fußball-Gott Toni Turek“, ja selbst „Nachspiel“ (kursiv) sind dem verängstigten, in einer „Sprachhölle“ lebenden, unter der „Sprachgewalt“ des Vaters (der fragt zur Halbzeit „Schon vorbei, dein Fußball? und kommentiert den 2:2-Halbzeitstand mit „Na doll!“) leidenden Jungen zuerst fremd, erleichtern ihm aber alsbald den „Abschied von den Eltern“ und die Identifizierung mit den „Helden von Bern“. „Fritz-Walter-Wetter“ (kursiv) - „Der Himmel schüttete seinen gnädigen Regen über die Spieler hinab, aber sonst hatte der Himmel, hatten Vater, Sohn und Heiliger Geist hier nichts zu bestellen, hier flehte niemand nach oben, hier war nichts bestimmt oder vorherbestimmt, hier funkte keiner aus der Hierarchie Gott, Vater, Mutter und Großvater dazwischen. Hier schaute ich ins Weite, nach vorn, und hier regierte nicht einer, sondern ein Team mit einem Kapitän ...“ (Seite 109) Für zwei Stunden kann er dem „Vaterkäfig“, wie er es empfindet, entrinnen und fühlt sich nach dem „... Aus! Aus! Aus! Auus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit drei zu zwei im Finale in Bern!“ als „der glücklichste von allen, glücklicher vielleicht als Werner Liebrich oder Fritz Walter“.

Damit endet die Erzählung. Angesprochen sind vor allem die Erwachsenen, deren - bewußtes wie unbewußtes - Einwirken auf Kinder im positiven wie negativen Sinne. Der Leser lernt die Welt des elfjährigen natürlich durch die Brille des erwachsenen Friedrich Christian Delius kennen. Und dieser will erklärtermaßen vor allem eine Botschaft vermitteln: An jenem bewegenden Fußball-Sonntag findet er den Kern einer kleinen Parabel über das Janusgesicht der Sprache - die Sprache als unterdrückende Macht und als Möglichkeit der Befreiung zugleich. Wo der erwachsene Delius sich in seinerReplik allzusehr in den Elfjährigen „hineingedrängt“ hat, entsteht dann allerdings auch der Eindruck des Gekünstelten und Gewollten. Insgesamt jedoch, und darauf kommt es letztlich an, enthält das Buch viele nachdenklich stimmende Beobachtungen und Reflexionen über eine Kindheit, die maßgeblich geprägt war vom Klima einer autoritär geführten Familie, von sich ständig nur wiederholenden, zudem statischen Ritualen, von der Trägheit eines offenbar verschlafenen Dorfes sowie den Zwängen und der Enge der fünfziger Jahre überhaupt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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