Eine Rezension von Beate Reisch

Philosophie als öffentliche Angelegenheit

Reiner Wimmer:
Vier jüdische Philosophinnen. Rosa Luxemburg, Simone Weil,
Edith Stein, Hannah Arendt
Reclam Verlag, Leipzig 1996, 397 S.

Dieses Buch (eine Lizenzausgabe des Attempto Verlags in Tübingen, 1. Aufl. 1990) enthält Vorträge, die anläßlich des 50. Jahrestags der Reichspogromnacht in Deutschland 1938 in Konstanz und Tübingen gehalten wurden. Sie sind den jüdischen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gewidmet. Der Autor verweist mit dem Buchtitel bewußt auf das Judentum der vier Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, „weil es zu ihrer aufgezwungenen oder frei anerkannten Identität gehörte“. (S. 13) Und ihre hinterlassenen Schriften seien ebenso, gewollt oder ungewollt, untrennbar mit dem politischen Zeitgeist verbunden. Diese These bildet auch die Klammer für die vier höchst unterschiedlichen Lebensläufe und ist der Ausgangspunkt für eine gelungene schwierige Gratwanderung, über Leben und Werk dieser beeindruckenden Frauengestalten spannungsreich, vielschichtig, populär und substantiell zu berichten. Reiner Wimmer vermied weitgehendst, aus seiner Sicht ihre Gedankenwelt zu beurteilen. Die originäre Aneignung und Urteile überläßt er, so im Vorwort dargelegt, dem Leser. Seine Aufgabe sieht er als Biograph darin, aufklärend gegen bis heute anzutreffende antisemitische Vorurteile zu wirken. Denn der „latente Antisemitismus“ zum Ende des 20. Jahrhunderts habe seit nunmehr über 40 Jahren Nahrung und Begünstigung aus dem bundesdeutschen Politik-Alltag selbst erhalten: „... Aufklärung und Verurteilung von NS-Verbrechen (wurden) meist nur halbherzig betrieben - manchmal auch bewußt verzögernd ...“ (S. 22) Deshalb sei es gar nicht so verwunderlich, wenn ein kommunaler Politiker (so ein Erlebnis des Autors) angesichts leerer Kassen vor wenigen Jahren öffentlich äußerte, daß man, um diese auszugleichen, „schon einige reiche Juden erschlagen“ müsse. (S. 20) Solcher politisch-historisch dümmlichen Ignoranz setzt Wimmer die philosophischen Themen dieser vier Jüdinnen als Indikator reicher geistiger Horizonte entgegen. Er zeichnet die von ihnen vollzogene Einheit von Denken und Leben, von Theorie und Praxis, von gedanklicher und moralischer Konsequenz bis zu ihrem Tod nach.

Die Erwartungen an diesen Biographienband werden nicht einheitlich sein. Mein Interesse war auf die Frage gerichtet, welche Rolle hatte das Judentum im Denken und Leben dieser Frauen gespielt? Ihre Werke sind nicht der jüdischen Philosophie (Philosophieren, gebunden an die jüdische Religion für das Judentum) zuzuordnen. Doch allen ist gemeinsam, daß sie durch die Erziehung im jüdischen Elternhaus, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise, ihr Leben und Denken nach dem zentralen Gebot des Judentums, des der Nächstenliebe, eingerichtet hatten. Dies zu betonen ist notwendig - entgegen dem antisemitischen Haß- und Feindbild vom raffgierigen, unersättlichen, reichen Juden. Jenes ideologische Versatzstück, das bis heute kraus in manchen Köpfen spukt, bis heute häßliche Sprüche ausspeit und vor über 60 Jahren die massenhafte Vernichtung europäischer Juden legitimieren half.

Für Rosa Luxemburg (1871-1919) spielte ihre jüdische Herkunft kaum eine Rolle. Antisemitische Äußerungen in ihrer Gegenwart empfand sie als persönliche Beleidigung und trat diesen unmittelbar in der ihr eigenen Art heftig entgegen. Im allgemeinen aber betrachtete sie Antisemitismus ebenso wie die gesellschaftlich untergeordnete Stellung der Frau als eine soziale Erscheinung, die erst der Sozialismus beseitigen würde.

Hannah Arendt und Edith Stein haben sich als Jüdinnen gesehen. Edith Stein (1891-1942), Schülerin und Assistentin des jüdischen Philosophen und Begründers der Phänomenologie Edmund Husserl, wollte Jüdin und Christin sein. Für sie wurde es lebenssinnstiftend, daß sie sich als Jüdin auch zu Christus bekannte. 1922 war sie zum Katholizismus konvertiert, in den 20er Jahren arbeitete sie als Deutschlehrerin, 1933 wurde sie Karmeliterin, 1942 wurde sie (vermutlich) in Auschwitz ermordet. 1987 wurde sie als Märtyrerin von der katholischen Kirche heilig gesprochen. Ihr „reiner, lauterer Glaube“ hatte sie ermutigt, das eigene Leben für die Sicherheit ihrer Ordensschwestern einzusetzen.

Hannah Arendt (1906-1975) überlebte das deutsche Nazi-Reich. 1933 war sie nach Frankreich geflüchtet und hatte seit 1940 in den USA gelebt. Ein großer Teil ihrer Schriften beschäftigt sich mit den Folgen totalitärer Herrschaft - für die Machtausübenden und für die Beherrschten (vergl. „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“). Die Auseinandersetzung Reiner Wimmers mit dem Arendtschen Report über den Eichmann-Prozeß in Israel 1961 („Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“) wurde in diesem Biographienband, gewiß konzeptionell gewollt, am tiefgründigsten angelegt.

An Simone Weil (1909-1943), französische Existentialphilosophin, „meine Jeanne d'Arc“ der Philosophie, wurde endlich wieder erinnert. Wenige Jahre nach 1945 erschienen postum viele Aufsätze von ihr. Sie wurde weithin über (West-)Europa bekannt und zitiert. Sie verstand sich als Sozialistin und ihre politisch-philosophischen Schriften stehen scheinbar im Widerspruch zu ihren (mystisch anmutenden) religionsphilosophischen Gedanken, die der katholischen Kirche verpflichtet waren. Für die nichtkonvertierte Jüdin war das „Unglück“ ein Strukturbegriff für menschliches Dasein überhaupt. Als Arbeiterin in den Renault-Werken hatte sie das Unglück mit den Ärmsten konkret auf sich genommen. Nur so glaubte sie, die Gott gegenüber einzig angemessene Haltung des „vollendeten Gehorsams“ eines wartenden Sklaven einnehmen zu können. Unglück bedeutete für S. Weil „Entwurzelung“ des Menschen von Gott, weil er sich von ihm entfernt habe. Den Weg, den Menschen wieder an Gott zu binden („Einwurzelung“), göttliche Gnade zu erfahren, sah sie in der Erneuerung des christlichen Glaubens („renouveau catholique“). Vielleicht ist es so, daß sie sich für die Erneuerung des christlichen Glaubens im alttestamentarischen Sinne opferte: Sie verweigerte trotz einer schweren Lungenentzündung jegliche Pflege. - Weil die Résistancekämpfer und die Bevölkerung in Frankreich während der Nazi-Okkupation, „da draußen“, hungerten und froren, opferte sie sich für die „Einwurzelung“ jener und als christliche Sozialistin, schlicht gesagt, aus Solidarität mit ihnen.

Die Vorträge sensibilisieren für die persönliche Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte, in dem Reiner Wimmer an die menschlichen Dimensionen des philosophischen Erbes dieser vier jüdischen Philosophinnen erinnert. Er hofft, daß seine Darstellung Faszination für diese Frauen auslöst (Vorwort), verstanden als Zeugenschaften unseres Jahrhunderts, und daß ihre Werke weniger nur zitiert, sondern gelesen, angeeignet werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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