Eine Rezension von Walter Unze

Eine eindimensionale Betrachtungsweise?

Karl Hugo Pruys: Helmut Kohl
Die Biographie.
edition q, Berlin 1995, 572 S.

Der Autor Karl Hugo Pruys (1938) ist ein erfahrener Journalist und kann auf eine Reihe Buchpublikationen verweisen, darunter auch solche biographischer Natur. Er weiß also, welche Erwartungen der Leser an eine Lebensdarstellung eines Menschen stellt. Eine Biographie darf nicht nur aus dem Aneinanderreihen von Daten bestehen, darf nicht nur Anekdoten erzählen, darf nicht nur eindimensional sein. In einer Biographie muß die darzustellende Person als handelnder Mensch in all seinen Beziehungen und Verhältnissen sichtbar und verständlich werden. Wenn dann die zu behandelnde Persönlichkeit eine lebende und allseits bekannte Person ist, verdoppeln sich die Probleme und Risiken schon bei der Konzeption und dann auch beim Schreiben.

Wer über eine lebende Persönlichkeit eine Biographie verfaßt, sie dazu noch - wie im vorliegenden Fall - als „erste umfassende Biographie“ deklarieren läßt, hat zwei Möglichkeiten der Darstellung. Entweder er bricht seinen Text „bei Redaktionsschluß“ ab, läuft damit natürlich Gefahr, daß so manche seiner Bewertungen und Charakterisierungen durch spätere Handlungen und Haltungen korrigiert werden; ein solcher Text dürfte dann keineswegs „umfassend“ genannt werden. Oder er ist so tief in die behandelte Persönlichkeit eingedrungen, daß er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit deren weitere Haltungen und Handlungen voraussieht und sie dem Leser auch anbietet, ohne daß der Text zur bloßen Spekulation wird.

Man kann sich diese beiden Darstellungsmöglichkeiten verdeutlichen, wenn man sich vorstellt, daß 1947 ein Autor eine Biographie über Konrad Adenauer verfaßt hätte: entweder in der Annahme, der siebzigjährige Politiker habe sein aktives politisches Leben hinter sich, oder aber mit der Voraussicht, daß er einen künftigen Spitzenpolitiker der Nachkriegsära vor sich habe. Das Ergebnis wäre sicher so unterschiedlich, als hätte man über zwei verschiedene Menschen geschrieben.

Dies ist aber nur eines der Risiken, mit denen ein Autor fertig werden muß, wenn er über eine noch lebende bekannte Person des öffentlichen Lebens schreibt. Ein anderes Problem besteht im hohen Bekanntheitsgrad des Menschen, den man beschreibt. Um der Gefahr zu entgehen, bereits Bekanntes nur zu wiederholen, wird nicht selten auf Anekdotisches zurückgegriffen, oder aber man beschränkt sich auf Bewertungen, Einschätzungen, ohne die Fakten darzustellen. In beiden Fällen steht am Ende keine Biographie, sondern entweder werden es Geschichten um eine Person oder aber Kommentare über eine Person.

Von einem Autor wie Karl Hugo Pruys, der biographisch bereits über Hans Klein und Volker Rühe gearbeitet hat, konnte man annehmen, daß er sich der Probleme seiner großangelegten Kohl-Biographie bewußt war. Nach der Lektüre ist man sich dessen jedoch nicht mehr ganz so sicher.

Die Biographie enthält 13 Kapitel über die Zeit von 1930 bis 1994. Aber eigentlich besteht das Buch aus zwei großen Teilen: Bis Seite 247 geht es um die Frage „Wie werde ich Kanzler?“, bis Seite 486 geht es um die Frage „Wie bleibe ich Kanzler?“. Schon sehr früh wird als Kohls Maxime formuliert: „In die Politik gehen und sich dort einen Namen erwerben, koste es, was es wolle.“(S. 53) Und dieser Weg wird mit allen Details des politischen Kampfes beschrieben: 1963 Fraktionsvorsitzender im Landtag von Rheinland-Pfalz, 1966 Landesvorsitzender der CDU in Rheinlan-Pfalz, 1969 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, 1973 Bundesvorsitzender der CDU, 1982 Bundeskanzler. Da der Autor bereits in seiner Einleitung davon ausgeht, daß Helmut Kohl „für keine bestimmte Politik steht und weder über eine Konzeption, ein spezifisches Programm, noch ein weltanschaulich-philosophisches Crede, eine Vision“ verfüge, findet er auch keine Idee bei Kohl, „über die sich länger als zwei Minuten nachzudenken lohnte“. (S. 15) Auch sonst scheint dem Autor die Persönlichkeit Kohls so uninteressant, daß er ihr keine Bedeutung beimißt außer ihrer Wirkung im praktischen politischen Geschäft. Dieses äußerst eindimensionale Herangehen führt zu einer Darstellung Kohls, die sich allein auf seinen praktisch-politischen Lebensweg und seine auf diesem Weg erforderlichen Handlungen konzentriert. So werden äußerst akribisch alle Schritte beschrieben, die notwendig waren, um auf einen bestimmten Posten zu gelangen, eine bestimmte Position zu halten, einen anderen zu verdrängen usw. Daß alles, was den eigenen Zielen dient, organisierbar sei, wird als die praktische Lebensphilosophie Kohls ausgegeben. (S. 43)

Gegenüber der Detailtreue, die der Autor jedem Schritt der politischen Karriere Kohls einräumt, spielen die besonderen Bedingungen, unter denen Kohl agiert, so gut wie keine Rolle. Weder die internationalen noch nationalen politischen Prozesse der Zeit, geschweige denn geistig-kulturelle Entwicklungen in diesen Jahrzehnten werden benannt, schon gar nicht dargestellt. Eine einzige Ausnahme bildet der Prozeß der deutschen Wiedervereinigung, den der Autor ausführlicher darstellt, allerdings auch hier im alleinigen Bezug zu Kohl. („Erst mit der Einheit findet Helmut Kohl das politische Thema seines Lebens.“, S. 395). Erschreckend ist allerdings das Niveau, auf dem Personen des Einigungsprozesses aus dem Osten Deutschlands angeführt werden: de Maizière, Krause, Diestel.

Überhaupt stellen die Menschen, die in diesem Buch außer Kohl noch vorkommen, den Autor offensichtlich vor ein Problem. Ob Biedenkopf oder Strauß, Geißler oder Dregger, ob Mitterrand oder Jelzin - alle bleiben Figuren, die allein auf dem politischen Lebensweg Kohls stehen, von ihm bewegt werden oder - im besten Falle - für oder gegen seine politischen Zwecke agieren. Wenn der Reichtum einer Persönlichkeit, seine entwickelte besondere Individualität etwas mit dem Reichtum und der Vielfalt seiner Beziehungen zu seiner Zeit und ihren Menschen zu tun hat, dann muß Helmut Kohl nach Version des Autors ein armer Mann sein. Er ist demnach der Prototyp eines eindimensionalen Menschen, festgelegt durch die starre Charaktermaske Politiker/Kanzler. Wie man auch zum Kanzler Helmut Kohl stehen mag, eine solche vereinfachte und daher auch über Strecken uninteressante Biographie hat er nicht verdient.

Das Buch wird mit einem Essay des Deutschland-Korrespondenten des „Figaro“, Jean-Paul Picaper, zum Thema „Von Kohl-Mitterrand zu Kohl-Chirac: die ganz besondere Beziehung“ beendet. Wer eine in einer Biographie zu erwartende treffsichere, nicht abgegriffene und vielleicht auch provozierende Charakteristik Kohls lesen will, sollte mit diesem Essay beginnen; allerdings um den Preis, daß ihm dann die ersten 486 Seiten schwerfallen werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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