Eine Rezension von Kurt Wernicke

DDR: Die Delegitimierte Republik

Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan:
Countdown zur deutschen Einheit
Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen
1987-1990.
Dietz Verlag, Berlin 1996, 383 S.

In dem bedenklichen Gehabe, mit dem sich berufsethisch verluderte Vertreter der Journalistenzunft auf der einen Seite, vor Dankbarkeit für eine neue Lebenschance triefende Wissenschaftsskribenten auf der anderen auf die einmalige Chance stürzen, Archive eines verschwundenen Staates ohne die weltweit übliche - im deutschen Archivwesen übrigens eigentlich traditionell besonders lange und um den Schutz des Ansehens evtl. noch Lebender besonders pingelig bemühte - Schonfrist auszubeuten - in diesem von der sonstigen Welt mit einiger Verwunderung beobachteten Prozeß fällt es immer wieder auf, wenn hier und da doch weiße Raben ihr Vorhandensein signalisieren: Es gibt gelegentlich Publikationen, denen Enthüllungssadismus und Denunziantentum durchaus fremd sind. Zu diesen seltenen Ausnahmen gehört der vorliegende Titel, der nicht etwa von zwei „abgewickelten“ Historikern aus der DDR mit verständlicher Wut zusammengestellt und kommentiert wurde, sondern von zwei Vertretern jener Intellektuellen-Minderheit aus geisteswissenschaftlichen Institutionen der DDR, denen der Übergang in die freiheitlich-demokratische Grundordnung beruflich gelungen ist. Beide haben seit 1991 mehrfach in einschlägigen Fachorganen die Seriosität ihrer Forschungen unter Beweis gestellt, und das - von der berufsmäßig organisierten Sensationsgier vornehm übersehene - Buch Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980-1987, das sie gemeinsam 1995 der Öffentlichkeit übergaben, hat bei der ernsthaften Wissenschaft deshalb Beachtung gefunden, weil es ohne Sensationsgehabe die verbreiteten Selbstdarstellungen Bonner Politiker über ihre deutschlandpolitischen Maximen in den weltpolitisch konfrontativen achtziger Jahren (Kohl erzählt ja sogar, er habe den Honecker-Besuch in Bonn 1987 als „Kröte geschluckt“ ...) ad absurdum führt. Das Vorliegende ist von den beiden Herausgebern dann auch ausdrücklich als direkte Fortsetzung jenes Bandes von 1995 deklariert. Seine Aufnahme bei den privilegierten Meinungsmachern der deutschen Geisteslandschaft gleicht erwartungsgemäß auch der von 1995: Es wird im allgemeinen mit Nichtachtung gestraft!

Das hat natürlich seinen Grund, denn die aus dem Archiv der SED und dem der DDR-Regierung entnommenen Dokumente zeichnen leidenschaftslos ein Bild von der anfänglichen schmeichelnden Anbiederung bei den DDR-Gewaltigen (wo u. a. der später so verteufelte OibE Schalck-Golodkowski vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Späth über CDU-interne Machtkämpfe informiert wurde / Dok. 34 / ) bis zu der endlichen Siegermentalität selbst gegenüber dem frei gewählten DDR-Ministerpräsidenten de Maizière (Kohl an diesen am 31. 5. 90: „Schließlich möchte ich daran erinnern, daß wir beide abgesprochen hatten ...“ / Dok. 71 / ). In vier Kapiteln (1987 bis 1988: Vorbereitung auf das Ungewisse; Frühjahr bis Herbst 1989: Krise ohne Ausweg; Herbst 1989 bis Frühjahr 1990: „Deutschland, einig Vaterland“; Frühjahr bis Herbst 1990: Eilmarsch zur Einheit. Zu jedem Kapitel gibt es vorweg einen sachlich-nüchternen Kommentar) präsentieren die Herausgeber insgesamt 90 Dokumente, bei deren Studium man recht gut versteht, weshalb die DDR grundsätzlich - wie es Kinkel 1991 unverblümt ausdrückte - „delegitimiert“ werden muß: Wenn man es nicht mit einem Völkerrechtssubjekt zu tun hatte, dann war ihm gegenüber natürlich in politischen Verhandlungen und Absprachen jeder Lug und Trug ebenso wie jeder Wortbruch gerechtfertigt. So äußerte Genscher z. B. in einem Gespräch mit dem prominenten ZK-Mitglied Otto Reinhold am 26. 8. 1988 in seinem Bonner Ministerbüro jenem gegenüber, daß er im Gegensatz zu solchen westlichen Politikern und Vordenkern, die sich von einer Destabilisierung der sozialistischen Länder Vorteile für den Westen erhofften, persönlich der Ansicht sei, Stabilität und positive wirtschaftliche Entwicklung im Realsozialismus brächten viel bessere Voraussetzungen „für ernsthafte Schritte auf dem Weg zu einem europäischen Haus“ / Dok. 19 / ... - eine Ansicht, die er dann ein Jahr später erfolgreich zu verdrängen vermochte. Beispiele solcher Art bringt die Dokumentenauswahl zuhauf, und es lohnt sich, sie zur Kenntnis zu nehmen. Aus deren Fülle soll noch eines herausgehoben werden: Als Modrow bei seinem Regierungsbesuch in Bonn am 13./14. 2. 1990 dem Bundeskanzler in einem Gespräch unter vier Augen nahelegte, bei der absehbaren Vereinigung beider deutscher Staaten mit Bedacht vorzugehen; es könne sich nicht um einen Anschluß der DDR an die BRD handeln; die DDR habe schließlich Wesentliches in den einheitlichen Staat einzubringen - da stimmte Kohl dem ausdrücklich zu: Er wende sich gegen einen Anschluß der DDR, 40 Jahre DDR seien eine Realität, es gehe um gegenseitige Rücksichtnahme, man müsse vernünftig aufeinanderzugehen!!! / Dok. 63 /. Man kann natürlich böswillig Zweifel anmelden, ob die DDR-seitige Niederschrift des Gesprächsverlaufs kompetent sei; aber zu deren Überprüfung anhand des bundesdeutschen Gegenstücks wird man nach dem geltenden Archivgesetz leider (im günstigsten Fall, soweit nicht Persönlichkeitsrechte Helmut Kohls ins Spiel gebracht werden) drei Jahrzehnte warten müssen! Vor einem Gericht, das über den Tatbestand arglistige Täuschung zu befinden hätte, ist Modrow allerdings inzwischen nicht mehr in der Position des glaubwürdigen Zeugen - er ist wegen Wahlfälschung verurteilt, demnach vorbestraft und mithin „delegitimiert“.

Im Kontext mit dem Thema bringt die Dokumentensammlung am Rande tiefe Einblicke in die ewige und unverbrüchliche Freundschaft der UdSSR mit ihrem Ziehkind DDR. So schnell, wie sich die Gorbatschowschen Utopien als das entpuppten, was sie waren, wandelten sich auch die ehernen Grundsätze Moskauer Deutschlandpolitik und landeten schließlich bei dem einzigen Interesse, das die UdSSR-Spitzennomenklatura noch mit der DDR verband: daß ihre dort stationierten Truppen (bzw. deren Obere in Wünsdorf und Moskau) nur ja in den Besitz von genügend DM kämen! Die nackte politische Maxime, bei der Gorbatschow und Schewardnadse nach ihren im Band mehrfach dokumentierten weitschweifigen Vorträgen zum neuen Denken endlich landeten, lautete schlicht: Deutsche Einheit gegen Deutsche Mark - und zwar Einheit unter immer weniger Vorbedingungen für immer mehr Mark! Dabei fiel ihnen nicht einmal ein, in das 2+4-Abkommen über den Vollzug der deutschen Einheit jene Klausel hineinzudrücken, die die Franzosen 1956 anständigerweise bei den vertraglichen Absicherungen der Einkehr des Saargebiets in die Bundesrepublik durchgesetzt hatten: daß niemand im Bundesland Saarland rechtlich belangt werden dürfe, der 1945-1956 auf dortigem Territorium politisch und administrativ tätig gewesen war oder sich im Sinne der französischen Saar-Politik betätigt hatte. (Natürlich waren die französischen Politiker von 1956 auch nicht derart mit Gier nach Deutscher Mark vollgetankt wie die Sowjetspitze 1990, denn ihr mögliches politisches Überleben hatte nicht derart von der Erlangung harter Valuta abgehangen wie das der Auguren im Kreml!) Wie dankbar liest man da das Dok. 87, einen Brief Lothar de Maizières an Genscher vom 19. 9. 1990, der die vornehme menschliche Gesinnung des einzigen freigewählten DDR-Ministerpräsidenten belegt: In seiner Eigenschaft als DDR-Außenminister unterbreitete er Genscher detaillierte Vorschläge, wie den Mitarbeitern des Diplomatischen Dienstes der DDR, die er als qualifizierte Kräfte kennen- und schätzengelernt hatte, im vereinten Deutschland ein gewisses Maß an Berufsperspektive geboten werden könne. Die Anregungen waren natürlich in den Wind gesprochen - aber der Brief belegt doch immerhin, wie wenig sich selbst der Spitzenrepräsentant der am Rande der Abwicklung stehenden DDR überhaupt das Ausmaß der Gesamt-Abwicklung vorstellen konnte, das dann real eintrat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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