Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Reminiszenzen - erschreckend aktuell

Hans Mayer: Reden über Deutschland (1945-1993)
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1996, 218 S.

Die Bibliothek Suhrkamp, inzwischen auf mehr als 1 200 Bände angewachsen, ist einer von vielen Beweisen für das ewige Leben des Buches in seiner tradierten Form: schwarz auf weiß nach Hause getragene, handgreiflich wahrnehmbare, berührbare und so auch dem Blinden sichtbare Form für Botschaften des menschlichen Geistes. Was ist eine Diskette gegen den Buchrücken, der dich ansieht und auffordert, die von ihm zusammengehaltenen Gedanken zu erkunden!

Die unter einem gut gewählten Titel edierten zwölf Reden des Hans Mayer wurden zu unterschiedlichen Anlässen gehalten. Sie sind, dies eint sie, durchweg politischer Natur, Reminiszenzen, rückschauende Wertungen und verblüffend, ja erschreckend aktuelle Mahnungen. Hier spricht nicht in erster Linie, eigentlich überhaupt nicht der Literaturwissenschaftler, sondern der Homo politicus, der er geworden ist schon vor der 1933er Emigration in die Schweiz und dann nach Frankreich, erst recht vor und nach seiner 1963er Abkehr von der DDR unter dem Stigma des Revisionismus.

„Der vulgäre, zur bloßen Theologie entartete Marxismus-Leninismus der Stalinisten“ hatte ihn im Grunde von seinem Lehrstuhl in Leipzig vertrieben. Das ließ seine Rede in ebendieser Stadt zur Eröffnung der Buchmesse 1991 erkennen. Er sprach „Über die Einheit der deutschen Literatur“ und entfernte sich keinen Deut vom Tenor einer Rede, die er 1945 in Zürich für den Schutzverband deutscher Schriftsteller gehalten hatte. Dort forderte er, „ein Bund deutscher Schriftsteller kann und darf heute nur jene umfassen, deren Werk wahr geblieben ist, sich der Lüge versagte“. Sich der Lüge versagte - ein präziser Ausdruck, wie gemacht für heutigen PEN-Streit. Hier, in Leipzig, fast ein halbes Jahrhundert später, forderte er auf, zu danken „jenen großen Schriftstellern deutscher Sprache, die sich niemals beirren ließen. Sie verwechselten weder einen der beiden deutschen Staaten schlechthin mit Deutschland und den Deutschen, noch hielten sie es für möglich, von Europa als einem Erdteil zu sprechen, der vom Atlantik bis zur Elbe reicht.“

So dankte er Thomas Mann, Heinrich Böll und Max Frisch, also Böll als einzigem aus der Alt-Bundesrepublik und mit dem Hinweis, daß dieser „nicht bereit war, die von ihm erschaute Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland als einzig mögliche deutsche Wirklichkeit zu akzeptieren“.

In solcher äußerst knappen, herausgehobenen Aufzählung fand kein Name aus der DDR Platz. Im Kontext wurde Johannes R. Becher genannt, der Thomas Mann zweimal in Weimar begrüßt hatte, 1949 und 1955, Todesjahr des in der Schweiz lebenden Thomas Mann. „Becher hat viele Wandlungen durchgemacht, hat vieles getan und geschrieben, was er selbst für schädlich hielt und verlogen. Aber in einem sehr reinen Sinne ist Becher, in einem durchaus idealistischen Sinne ein deutscher Patriot gewesen.“ Wieder eine souveräne Einschätzung, deren Differenziertheit jeden Lernwilligen anregen kann.

Das Vermögen, gesellschaftliche Vorgänge nicht einfarbig zu sehen, also auch die Zwischentöne menschlichen Denkens und Verhaltens zu werten, hat Hans Mayer seit jeher ausgezeichnet. Gelegentlich läßt er erkennen, daß er als gelernter und promovierter Jurist aus dieser Ausbildung Nutzen für die Klarheit seiner Aussagen gezogen hat, ohne jedoch mit dieser Erkenntnis in Nostalgie zu verfallen. Ganz im Gegenteil.

Im Oktober 1987 hat er im Kölner Gürzenich „Aus den Erinnerungen eines entlaufenen Juristen“ erzählt und eine wesentliche Ursache dafür aufgedeckt, daß nach 1933 „deutsche Richter und deutsche Anwälte sowohl des Staates wie irgendwelcher Prozeßparteien imstande waren, ihre Rechtswissenschaft einzusetzen für ein Unrechtssystem“. Das aber war keineswegs ein „unbegreifliches Phänomen“, wie Mayer es nannte. Er selbst nämlich weiß es besser, wie er im selben Vortrag beweist: „Die Juristenausbildung hatte uns kein wirkliches Unrechtsbewußtsein vermittelt.“ Und in diesem Zustand, so darf man hinzufügen, sind all jene braunen Juristen geblieben, die nach 1945 in der Bundesrepublik auf ihren Posten verharren und eine Bewältigung des Nazi-Unrechts weitgehend verhindern durften. Auch in dieser Kölner Rede übrigens erwähnt er mit Abscheu den Berliner Juristen und Antisemiten Carl Schmitt; es ist eines der Versatzstücke an Namen und Begebenheiten, die mehrfach zu verwenden einem Hans Mayer gestattet sein darf. Verblüffend, ja erschreckend aktuell ist sein Beitrag zur gegenwärtigen, 1996er Diskussion, die offenbar weit über den aktuellen literarischen Anlaß - Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker - hinausgeht. Im Oktober 1993 also sprach Mayer in Karlsruhe, im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts, vor der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung über „Deutsche und Juden nach dem Widerruf“ (womit er den 30. Januar 1933 als Widerruf dessen meinte, „was man als deutsch-jüdische Symbiose zu bezeichnen pflegt“). Er nannte es „eine schreckliche Wahrheit von heute, daß es in breiten Schichten des deutschen Bewußtseins von heute offenbar positive Erinnerungen gibt an ein Drittes Reich, das mit Stolz als judenfrei deklariert werden konnte.

Dergleichen ersehnen viele auch heute noch abermals herbei. In keiner tiefen Schicht aber des heutigen deutschen Bewußtseins findet sich irgendeine traumatische Erinnerung an die von Deutschen begangenen Menschheitsverbrechen. Nach 1919 hatte es im deutschen Bewußtsein keine deutsche Niederlage gegeben. Heute hat es offenbar für die Mehrheit der nun Heranwachsenden auch den Holocaust nicht gegeben.“ Und er fügte hinzu: „Sorgen machen mir nicht die jungen Glatzköpfe. Sorgen machen mir die Geldgeber der Organisationen, die Goebbels-Epigonen.“

Hans Mayer, Jahrgang 1907, ist heute ebensowenig ein bequemer Denker wie er es in vergangenen Jahrzehnten war. Man mag über ein „deutsches Bewußtsein“ und einige andere ungenau erscheinende Formulierungen streiten - ihn zu lesen, sich an seinen Erfahrungen und Ansichten zu prüfen, Gedankenfülle und makellose Sprache zu genießen bringt Gewinn.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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