Eine Rezension von Rudolf Kirchner

„Wiesenthals Kriege“

Alan Levy: Die Akte Wiesenthal
Verlag Carl Ueberreuter, Wien 1995, 397 S.

Daß der heute in Prag lebende amerikanische Journalist Alan Levy (1932) von der „American Society of Journalists and Authors“ für das vorliegende Buch zum Autor des Jahres 1995 gewählt wurde, ist sicher in gleichem Maße dem Thema und der gewählten Darstellung geschuldet. Der Autor hat es verstanden, auf eine ganz besondere Art das Leben des Simon Wiesenthal vorzustellen, ohne daß daraus eine der üblichen Biographien geworden ist.

Von den fünf Teilen des Buches berichtet nur der erste Teil („Wiesenthals Kriege“) über den Lebenslauf Wiesenthals: Von seiner Geburt am 31. Dezember 1908 in Galizien über ein paar Schuljahre in Wien, über das Architekturstudium in Prag und Lwów, einen Arbeitsaufenthalt in der Sowjetunion bis hin zu seiner Arbeit in einem noblen Architektenbüro in Lwów, in dem er zwischen 1936 und 1939 tätig war. Erzählt wird von den Verfolgungen der Juden, nachdem die Stadt 1939 sowjetisch wurde, und wie Wiesenthal diese Zeit als Mechaniker und schließlich sogar als Bauingenieur überstand. Dann begann die Zeit des Sterbens. Mit der deutschen Besetzung Anfang Juli 1941 kam es zu ersten Pogromen - sie kosteten 6 000 Juden das Leben - und zur immer systematischeren Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Später hat Wiesenthal viel Zeit gehabt, über die Verbrechen an unschuldigen Menschen nachzudenken. Für ihn sind es immer gleiche Komponenten, die dabei eine Rolle spielen, nämlich Haß, Diktatur, Bürokratie, Technologie, Krise/Krieg und - eine Minderheit als Opfer. (vgl. S. 24/25)

Wiesenthal verlor in den Jahren bis 1945 89 Verwandte. Er selbst überlebte: im Ghetto von Lwów, das nun Lemberg hieß, im Untergrund, in Gestapo-Haft, in Arbeitslagern und auf dem letzten Todesmarsch nach Buchenwald und schließlich nach Mauthausen. Hier erfolgte am 5. Mai 1945 die Befreiung durch die Amerikaner. Schon drei Wochen später arbeitete Wiesenthal auf einem Gebiet, das nunmehr sein Lebensinhalt werden sollte: die Suche nach den NS-Verbrechern. Noch 1945 fand er seine totgeglaubte Frau Cylia wieder. 1947 begründete er das Jüdische Historische Dokumentationszentrum in Linz. Für ihn wurde zur Lebensaufgabe, was eine junge Jüdin kurz vor ihrem Tod in ein Gebetbuch schrieb: „Bitte vergeßt uns nicht! Und vergeßt unsere Mörder nicht!“ (S. 79)

Das so geschilderte Leben Wiesenthals schafft Verständnis für die Biographie Wiesenthals nach 1945. Die weiteren Teile des Buches sind verschiedenen Aktionen gewidmet, die zu seinem Lebensinhalt geworden waren: Adolf Eichmann; Josef Mengele; Franz Paul Stangl, Gustav Wagner, Hermine Braunsteiner-Ryan; Bruno Kreisky, Kurt Waldheim.

Die Suche nach dem untergetauchten Adolf Eichmann, der seit der Wannsee-Konferenz 1942 mit der praktischen „Endlösung der Judenfrage“ betraut war, seine Entdeckung in Argentinien, seine Entführung nach Israel, wo ihm der Prozeß gemacht und wo er hingerichtet wurde, das alles sind heute bekannte Fakten. Trotzdem gewinnen sie in der Darstellung durch Levy neuen Informationswert, weil er sich nicht auf einen Aspekt beschränkt, sondern - in der Sichtweise Wiesenthals - den Menschen Eichmann, seinen Werdegang, seine Verbrechen und sein anschließendes Leben zu erkunden sucht. Wiesenthal erhielt für seinen Anteil an der erfolgreichen Jagd nach Eichmann offiziellen Dank aus Israel. Er selbst sah seine wichtigste Leistung bei dieser Arbeit darin, die Legende vom Tode Eichmanns zerstört zu haben.

Josef Mengele gehört für Wiesenthal zu den wichtigsten Tätern, denen er seine ganze Aufmerksamkeit - allerdings erfolglos - widmete. Der Doktor der Philosophie und der Medizin war nach Wiesenthal „der perfekte SS-Mann; er lächelte hübsche Mädchen an, während er sie in den Tod schickte“. (S. 162) Ihm gelang 1949 die Flucht nach Übersee, wo er 1979 in Brasilien gestorben ist.

Zu den Fällen, in denen Wiesenthal tatsächlich als „Nazijäger“ wirkte, zählen die Erfolge bei der Suche nach Franz Paul Stangl, dem Kommandanten von Treblinka, Gustav Wagner, dem stellvertretenden Kommandanten von Sobibor, und der SS-Aufseherin Hermine Braunsteiner-Ryan, der „Stute von Majdanek“. Stangl, dem 1947 die Flucht aus amerikanischem Gewahrsam gelang und der mit Hilfe der römischen Kirche 1951 nach Brasilien reiste, wo er mit seiner Familie unter seinem Namen lebte. Erst 1967 wurde er verhaftet, wobei die Initiative von Wiesenthal ausging. An die Bundesrepublik ausgeliefert, wurde er am 22. Dezember 1970 zu lebenslanger Haft verurteilt. Auch Gustav Wagner lebte bis zu seiner Verhaftung 1978 unbehelligt in Brasilien. Wegen eines Formfehlers wurde er nicht an Deutschland ausgeliefert. Er beging 1980 Selbstmord. Bei Hermine Braunsteiner dauerte die „Jagd“ erheblich länger, wurde durch ihre besondere Situation auch komplizierter. Sie war für ihre Taten im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in Graz zu drei Jahren Haft verurteilt und 1949 aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie heiratete den Amerikaner Russell Ryan und wurde 1963 in den USA eingebürgert. 1964 spürte Wiesenthal die ehemalige SS-Aufseherin in New York auf. Erst 1972 kam es zum Prozeß in den USA, 1973 zur Auslieferung nach Deutschland, wo 1976 der sogenannte „Majdanek-Prozeß“ gegen zehn Angeklagte begann, der fünf Jahre dauerte. 1981 wurde Hermine Braunsteiner-Ryan zu lebenslanger Haft verurteilt.

Im letzten Teil des Buches wird der Konflikt zwischen Wiesenthal und Kreisky beschrieben. Dazu kommen Details über die nationale und internationale Auseinandersetzung um Kurt Waldheim und seine Vergangenheit bei der deutschen Wehrmacht. Das Schlußwort des Buches bildet jedoch jene hinzugefügte kurze Rede, die Simon Wiesenthal 1995 zum 50. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik Österreich in Wien gehalten hat und in der es heißt: „Ich hoffe, daß es im kommenden Jahrhundert keine Diktaturen mehr geben wird und keine Ideologien ... Kein Mensch soll zulassen, daß eine Bewegung, eine politische Partei oder auch eine Person sein Gewissen mißbraucht oder ausschaltet!“ (S. 388/389)


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
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