Eine Rezension von Bernd Sander

Noch vorhandene Gräben nicht ignorieren

Volker Koop: Abgewickelt?
Auf den Spuren der Nationalen Volksarmee
Bouvier Verlag, Bonn 1995, 227 S.

Koop untersucht in seinem Buch zunächst kurz den Charakter bzw. die Aufgabenstellung der Nationalen Volksarmee (NVA) und kommt zu dem Schluß, daß die NVA nicht nur den Verfassungsauftrag hatte, die sozialistischen Errungenschaften der DDR vor äußeren An- und Übergriffen zu schützen, sondern daß sie als hochgerüstete Armee des Warschauer Vertrages auch eine äußere Funktion hatte. „... sie war vielmehr - an der Seite der sowjetischen Streitkräfte - für den Angriff und für die Vernichtung des kapitalistischen und imperialistischen Klassenfeindes vorgesehen. Im Rahmen des Warschauer Vertrages waren ihr eindeutig offensive Aufgaben zugewiesen worden.“(S. 38)

Mit Wirkung vom 2. Oktober 1990 hat die Nationale Volksarmee aufgehört zu existieren. Die NVA wurde nicht, wie vielfach fälschlicherweise behauptet, von der Bundeswehr übernommen, sie gab es ganz einfach nicht mehr, wohl aber noch ihre Menschen. Tatsache ist, „daß mit der deutschen Wiedervereinigung eine ganze Bevölkerungsgruppe ausgegrenzt wurde“. (S. 10) Demgegenüber geht der letzte Verteidigungsminister der DDR, Rainer Eppelmann, (zweckoptimistisch oder demagogisch?) von einer Übernahme der NVA aus. In seinem letzten Tagesbefehl heißt es: „Sie, als Soldaten und Zivilbeschäftigte der Nationalen Volksarmee, gehören mit dem Wirksamwerden des Beitritts entsprechend dem Einigungsvertrag zur Bundeswehr. Unter Ihrer Mitwirkung vollzieht sich ein historischer Akt.“ (Anhang)

Koop geht der Frage nach, inwieweit überhaupt eine Integration der NVA in die Bundeswehr und die Mitwirkung ehemaliger NVA-Angehöriger am „historischen Akt“ erfolgte. Beides verneint er mit Recht. Von den 100 000 NVA-Angehörigen (und 45 000 Zivilbeschäftigten) wurden lediglich knapp 3 000 übernommen. Und diese Übernahme erfolgte nicht aus humanitären Gründen oder aus Großherzigkeit, sondern man brauchte Spezialisten auf Zeit, die die NVA-Waffen bedienen konnten. Überdies wurden die Offiziere um einen oder mehrere Dienstränge zurückgestuft und trugen keinerlei besondere Verantwortung. Und dabei gab es auch obskure Fälle. Ein Offizier der NVA brachte es zum Major und später zum Oberstleutnant. Nach dem Einzug der Bundeswehr wurde er Soldat auf Zeit und in den Dienstgrad eines Majors zurückgestuft. Mit der endgültigen Übernahme in die Bundesarmee erhielt er den Rang eines Hauptmanns, um schließlich erneut zum Major befördert zu werden. Er war also dreimal in seinem Leben Major.

Um noch ein Beispiel für die Nichtintegration, für die Abwicklung aufzuzeigen: Der Carl Maria von Weber Chor, als Bestandteil des Erich-Weinert- Ensemble, für dessen Erhalt sich die nationale und internationale Musikwelt eingesetzt hat, wurde von der Bonner Hardt- Höhe „als lästiges Erbe der NVA, von dem man sich trennen muß, betrachtet“. (S. 125) Was dann auch erfolgte.

Die Bundeswehr, so Knoop, war keinesfalls glücklich über das Erbe, das sie im Osten antreten mußte. Sie fand teilweise desolate Kasernen mit Braunkohleheizung, munitions- und giftverseuchte Gelände (vor allen Dingen von sowjetischen Truppen genutzte) vor und Waffen und Ausrüstungen, die nicht zu ihrer standardgemäßen Ausstattung paßten. Aber viele der ehemaligen NVA-Waffen wurden z. T. lukrativ an ausländische Staaten verkauft. Die Empfängerliste „liest sich wie ein relativ umfassender Auszug aus dem Weltatlas“. (S. 158) Sogar Indonesien, das wegen seiner menschenrechtsfeindlichen Politik im Inneren und wegen seiner brutalen Unterdrückungspolitik in Ost-Timor international heftig kritisiert wird, erhielt demilitarisierte Schiffe, die aber schnell wieder aufgerüstet werden können, für 20 Millionen DM. Und schließlich hat der Golfkrieg erheblich dazu beigetragen, die NVA-Bestände zu reduzieren. Material für 1,2 Mrd. DM, zum großen Teil aus NVA-Beständen, wurde den USA in diesem Zusammenhang zur Verfügung gestellt.

Der Autor hat das Buch nach den verschiedensten Problemen der NVA bzw. ihrer Abwicklung gegliedert. Der Leser findet eine Fülle von Material und Informationen, angefangen von der Struktur der NVA, der Gliederung, einer Auflistung der Objekte sowie eine Darstellung des Funk- und Kuriersystems, der Kultur, des Sports, der Rolle des Politoffiziers, der Strafanstalten usw.

Knoop geht auch auf die Beziehungen zwischen den Offizieren aus den alten und neuen Bundesländern ein, die völlig zu Recht einer Verbesserung bedürfen. Aber „es wird noch geraume Zeit brauchen, bis hier tatsächlich die Ressentiments auf allen Seiten der Vergangenheit angehören. Dies ist angesichts einer über 40jährigen Teilung Deutschlands, in denen die beiden Teile unterschiedlichen und gegensätzlichen Gesellschaftssystemen angehörten, auch nur selbstverständlich, doch sollte man dieses annehmen, versuchen, Gräben zuzuschütten und nicht so tun, als gäbe es diese Gräben nicht mehr.“ (S. 182) Dem kann man nur zustimmen. Und Koop fragt, was im Umgang mit den Menschen in den neuen Ländern falsch gemacht wurde, „daß Reste der einstigen Wiedervereinigungseuphorie kaum noch mit der Lupe zu entdecken sind“. (S. 10)

Der Autor schließt sein Buch mit einer detaillierten Zeittafel, einem (sparsamen) Quellenverzeichnis, Abkürzungsverzeichnis und einer kleinen Dokumentensammlung.

Koop schreibt in seinem Vorwort: „Dieses Buch wird Widerspruch von allen Seiten erhalten. Denen in den alten Bundesländern wird es zu einseitig sein, denen in den neuen ebenfalls.“ Diese Befürchtung kann der Rezensent nicht teilen. Es ist ein Buch, das sich durch Sachlichkeit, verbunden mit einer verständnisvollen Kommentierung, auszeichnet.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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