Eine Rezension von Christel Berger

Tagebücher aus schwankenden Tagen

Victor Klemperer: „Und so ist alles schwankend“,
Tagebücher Juni bis Dezember 1945.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1995, 255 S.

Hermann Kasack: Dreizehn Wochen. Tage- und Nachtblätter.
Edition Hentrich, Berlin 1996, 334 S.

Tagebuch-Schreiben - wer hat nicht schon einmal damit angefangen? Und wieviele hielten nicht durch! Die Notizen - meist Ergüsse leidender Seelen oder Berichte über Erlebnisse, die im Verdacht stehen, einmal „historisch“ genannt zu werden, versanden, werden spärlicher, bleiben schließlich aus. Vielleicht nach Jahren ein neuer Anfang mit guten Vorsätzen durchzuhalten, aber bald fehlt wieder Zeit und Lust ...

Das Problem, nicht durchzuhalten, trifft auf die Schreiber, deren Tagebücher-Teile jetzt ediert sind und hier besprochen werden, nicht zu. Sie gehören zu den Ausnahmen, Tagebuchschreiben gehörte zu ihrem Leben.

Victor Klemperer (1881-1960) hat fast tagtäglich die einzelnen Beschäftigungen, Erlebnisse in Beruf und Freizeit sowie die Befindlichkeiten von Geist und Körper notiert. Kurz vor der Wende erschien Curriculum vitae (1989), der Beginn der ausführlichen Lebensgeschichte. Die Veröffentlichung der Tagebücher von 1933-1945 Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1995) (besprochen in BLZ 5/96) wurde eine Sensation auf dem deutschen Buchmarkt. Gezwungen durch die Ereignisse, beschreibt hier der Romanistik-Professor und Deutsch-Nationale detailliert, wie er durch entsprechende Gesetze und eine sich denen fügende Öffentlichkeit ausschließlich zum Juden wird, der nach und nach alle Rechte verliert. Dank seiner „arischen“ Frau bleiben ihm Lager und Gas erspart. Aber die Demütigungen sind entsetzlich und zudem ganz öffentlich. Es sind die „Alltagsscheußlichkeiten“, über die kein Nürnberger Gericht befand, an denen auch nicht allein die oberen Hierarchien der Nazis beteiligt waren, sondern auch der „einfache kleine Mann“ - Deutsche. Der Historiker Günter Jäckel meint die besondere Faszination dieser Tagebücher darin zu sehen, „daß der Leser von heute mehr weiß als der Schreiber von damals“. Das halte ich nur für die eine Seite der Medaille, denn was Klemperer an Einzelheiten festhielt, wußte die Mehrzahl der heutigen Leser - meist Nachgeborene - eben nicht, trotz entsprechender allgemeiner Geschichtskenntnis, trotz mancher Kunstwerke, in denen versucht wurde, tragische Einzelschicksale aus der Zeit des Faschismus zu gestalten. Diese nüchternen Alltags-Dokumente sind wegen ihrer Detailliertheit, Genauigkeit und Authentizität eindrucksvoller als viele literarische Fiktionen und interessanter als jedes Geschichtsbuch.

Dem großen Erfolg von Ich will Zeugnis ablegen ... schickte der Aufbau-Verlag rasch die Tagebücher von Juni bis Dezember 1945 hinterher, und auch die Aufzeichnungen von vor 1945 folgten. Wieder ist Victor Klemperer der fast manische, aber unbedingt gewissenhafte Tagebuchschreiber, klagend, wenn er vor Terminen oder Müdigkeit die Ereignisse der letzten Tage nicht in Ruhe festhalten konnte. Wieder versieht er diese Arbeit im Sinne eines Chronisten persönlicher Fakten und eines Wissenschaftlers, der das genaue Hinsehen und Hinhören (schließlich ist er ja Sprachwissenschaftler!) und die analytische Betrachtung nicht nur im eng begrenzten Fachgebiet pflegt. Seit seiner Kindheit sensibilisiert, weil er ein „anderer“ war und schließlich deshalb ausgestoßen und gequält, ist er dünnhäutig und nicht ohne Mißtrauen. Im zweiten Halbjahr 1945, von dem dieser Teil der Tagebücher berichtet, ist er ein vom gelben Stern Befreiter und Gezeichneter, er ist Hoffender und Zweifler, Hoffnungsträger und ohne wirklichen Einfluß, Privilegierter und Hungernder, Frierender, dessen Frau die Schuhe zum Konzertbesuch oder Empfang fehlen.

Am 10. Juni 1945 kehrte Victor Klemperer mit seiner Frau Eva ins zerstörte, aber dennoch heimatliche Dresden zurück. Nach allem, was die beiden erlebt haben, könnte man diese Heimkehr als „großes Happy-End“ vermuten, doch die Realität der Wochen nach dem Krieg läßt diese Hoffnung nicht zu. Zwar beziehen Klemperers wieder das Haus, das man ihnen weggenommen hatte, doch es geht nicht ohne Einquartierung, und womit sollen sie heizen, als es kalt wird? Zwar sind nun fast ständig Besucher bei den ehemals Isolierten, doch nur wenige gehören zu den wirklichen alten Freunden. Die meisten brauchen einen Freibrief - „war, obwohl Mitglied der NSDAP, liberal“ - und andere haben Pläne, für die sie den nun - wie sie glauben - einflußreichen Professor gewinnen wollen. Dem aber geht es um die nur schleppend vorankommende eigene Rehabilitation an der Technischen Hochschule, wo schon wieder (oder immer noch?) einige der „alten“ Kollegen sitzen, die Klemperer in unguter Erinnerung hat. Die Begegnung mit ihnen trifft Klemperer so, daß seitdem Depressionen an der Tagesordnung sind. Er braucht Anerkennung, ein sicheres Gehalt, eine Tätigkeit, bei der er sich endlich entfalten kann, und dies findet er allmählich bei öffentlichen Vorträgen, in der Volkshochschule und im Kulturbund, aber eigentlich will er ja an die Hochschule ...

Außerdem interessiert es ihn brennend, ob wirklich Lehren aus der eben beendeten Vergangenheit gezogen werden, wie konsequent und radikal diese Lehren sind, wie - er ist Sprachwissenschaftler! - dies formuliert ist, und nicht nur bezüglich des Sprachlichen konstatiert er bald: „Man macht alle früheren Fehler wieder und in verstärktem Maß.“ Widersprüche zwischen sowjetischer Besatzungsmacht und Kommunisten, Kommunisten und der großen Masse, Kommunisten und der Intelligenz notiert er, wie insgesamt ihm alles „schwankend“ erscheint. Kommen - wie die Gerüchte lauten - die Amerikaner noch nach Sachsen? Werden die Kommunisten tonangebend bleiben? Wird über die umständliche Bürokratie, von den Sowjets eingeführt, jemals die Vernunft siegen? Kann die „schematische Brutalität des Säuberns“ je abgelöst werden durch die differenzierte Betrachtung des Einzelfalls?

Klemperer beobachtet genau, was ihn nicht hindert, sich für den Eintritt in die KPD - weil sie am radikalsten die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen gewillt ist - zu entscheiden. Da Klemperer nie beabsichtigte, das Tagebuch „pur“ zu veröffentlichen, sondern es immer nur als „Material“ begriff, steht für mich die individuelle Wahrhaftigkeit solcher Entscheidung nicht in Frage. Der Herausgeber dieses Teils der Tagebücher, Günter Jäckel, meint, diesen Schritt aus der Sicht von heute zusätzlich erklären und entschuldigen zu müssen, und eben da wird deutlich, daß die Beschreibung, die Klemperer von jenen Wochen gibt, mit heutigen Vorstellungen schon wieder so erheblich divergiert, daß man Entschuldigungen braucht. Wozu eigentlich? Traut man dem Leser das eigene Urteil nicht zu? Reicht die breite Facette des Wirklichkeitsbildes von Victor Klemperer nicht aus, um seiner Begründung für diesen Schritt folgen zu können?

Daß fast gleichzeitig ein Tagebuch erschien, das in ähnlicher Weise dieselbe Zeit festhalten wollte, ist bei der Größe des heutigen Buchmarktes kaum bemerkt worden: Der Schriftsteller Hermann Kasack (1896-1966) hielt die dreizehn Wochen, die dem Einmarsch der Roten Armee in Potsdam folgten, fest. Auch Kasack gehört zu denen, die fast lebenslang Tagebuch schrieben. Auch er war ein Gegner der Nazis gewesen, lebte bewußt in seiner Heimatstadt Potsdam seit 1933 in der inneren Emigration und dürfte das Ende der Naziherrschaft als Befreiung erlebt haben. Auch ihm ging es vornehmlich um Chronistenpflicht. Als Dichter verstand er sich, wenn er direkt an seinem Romanmanuskript Die Stadt hinter dem Strom saß. Diese Arbeit hatten die Zeitereignisse unterbrochen, so daß der Autor sich im Notieren seiner Tag- und Nachtbücher einen geistigen Übergang dorthin erhoffte. Günter Wirth weist im Nachwort nach, daß dies gelang, und schildert außerdem die enge Beziehung des Dichters zu seiner Heimatstadt Potsdam, die er 1949 aus politischen Gründen verließ.

Auch Hermann Kasack schreibt minutiös, was das Tagesgeschehen betrifft. Im Unterschied zu Klemperer hat er sein Haus in Potsdam unter den Nazis nicht verloren, muß aber jetzt - bei immer neu eintreffenden Truppen der Roten Armee - mit Hinauswurf und wechselnder Einquartierung rechnen. Ein Erlebnis der ersten Tage nach dem Einmarsch der Russen relativiert dabei alles Bangen um Besitz und Gut: Er und seine Frau werden mit anderen Nachbarn auf ein Rasenstück geführt, auf dem ein Grab ausgehoben ist und ein Maschinengewehr zur Erschießung steht. Kasack sieht das Ende vor sich, doch es geht noch einmal gut. Die Situation bleibt gespannt, die Nerven liegen bloß. Kasacks Aufzeichnungen bemühen sich um ein gültiges Bild, denn im Unterschied zu Klemperer schien er eine Veröffentlichung dieses Tagebuchs durchaus für möglich zu halten. Er selbst notiert, daß sein Bild der Zeit „schwankend“ sei. So hatte auch Klemperer die Tage und Wochen empfunden. Dabei ist der Unterschied zwischen den Schreibern interessant: Klemperer notiert die bloßen Fakten, um sich vielleicht später besser erinnern zu können. Kasack „malt“ die Situation mehr aus, beschreibt das Aussehen von Leuten und Plätzen, will Gefühle und Gedanken festhalten und geht in seinen Erinnerungen zurück. Der Dichter ist also weitaus sinnlicher als der Wissenschaftler. Wo letzteren der sprachliche Ausdruck interessiert, sucht Kasack nach der geistigen Anregung und Auseinandersetzung. Auch in dieser Ausnahmezeit oder: Gerade in dieser Ausnahmezeit ist jede Nachricht wichtig, die die Möglichkeit zeigt, daß die innere Emigration ein Ende hat. Kasack ist begierig, von den alten Freunden zu hören, will sich beteiligen am Neuaufbau des kulturellen Lebens, aber die Hoffnungs- und Mutlosigkeit überwiegt ...

Zwei Dokumente, die nicht nur für Historiker interessant sind. Daß sie erst nach über fünfzig Jahren veröffentlicht wurden, liegt vor allem daran, daß im kalten Krieg jeweils nur bestimmte Bilder aus jenen Tagen opportun waren: hie die Befreiung mit dem großen Aufatmen und Ranklotzen, da die Vergewaltigungen mit dem gleich einsetzenden Terror. Klemperer und Kasack erlebten beides, schwankend war es, anders ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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