Eine Rezension von Klaus Ziermann

Ein fundiertes Porträt des „Originals“

Geir Kjetsaa: Maxim Gorki. Eine Biographie.
Aus dem Norwegischen von Ingrid Sack.
Claassen Verlag, Hildesheim 1996, 444 S.

„Ich weiß, Sie werden mir auch diesmal vorhalten, daß es ein ‚politischer Kampf‘ ist und daß derjenige, ‚der nicht für uns ist, gegen uns ist‘, daß ‚neutrale Menschen gefährlich sind‘. Wladimir Iljitsch. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich mich ganz auf die Seite dieser Menschen stelle. Ich will lieber verhaftet und eingesperrt werden, als an der Zerstörung der besten und wertvollsten Kräfte des russischen Volkes mitschuldig zu sein, wenn auch nur passiv. Denn eines ist mir jetzt klar, ‚die Roten‘ sind ebenso große Feinde des Volkes wie ‚die Weißen‘.“ (S. 248) Dieser Brief vom 6. September 1919 charakterisiert deutlicher als jeder Kommentar die Spannungen zwischen Maxim Gorki und Wladimir Iljitsch Lenin zwei Jahre nach der Oktoberrevolution, und es war sicher kein Zufall, daß derartige Dokumente nicht veröffentlicht werden durften, solange sowjetische Märchen von der geistigen Übereinstimmung, der „beispiellosen persönlichen Freundschaft“ zwischen dem politischen, ideologischen und theoretischen „Führer des Weltproletariats“ und dem „Sturmvogel der Revolution“, dem „Begründer des sozialistischen Realismus in der Literatur“ die Runde machten.

Es ist ein großes Verdienst von dem fünfzigjährigen Professor für russische Literatur an der Universität Oslo und Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaften Geir Kjetsaa, daß er 1994 seinen Dostojewski-, Gogol- und Lew-Tolstoi-Monographien eine auf dem neuesten Stand der Forschung stehende Maxim-Gorki-Biographie folgen ließ, die nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Daß die Abschlußphase der Monographie in die Zeit fiel, als bislang unzugängliche sowjetische Archive ihre Regale der Forschung öffneten, hat sich zweifellos günstig ausgewirkt und den Neuwert des Buches gewiß erhöht. Allein darauf ist die Attraktivität dieser Gorki-Biographie nicht zurückzuführen. Ihr Reiz ergibt sich vor allem aus der spezifischen Art der Darstellung, aus der konzeptionellen Betrachtungsform, die Geir Kjetsaa wählte, um seinen Lesern das Leben und Werk Maxim Gorkis aus heutiger Sicht wissenschaftlich zu erschließen.

„In dieser Biographie habe ich versucht, ein Porträt des ‚Originals‘ zu zeichnen, ausgehend von der Wirklichkeit, die ihn geprägt und der er durch sein Werk Unsterblichkeit geschenkt hat...“, schreibt Kjetsaa im Vorwort. „Gorkis literarische Laufbahn gehört zu den merkwürdigsten Schriftstellerkarrieren unserer Zeit. In seinen Werken schildert er die dunkelsten Seiten des Lebens, aber gleichzeitig tritt er als einer der größten Optimisten der russischen Literatur in Erscheinung. Er kommt aus der Tiefe des Volkes und endet als Galionsfigur Stalins Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. In seinem Heimatland war er vor kurzem noch Gegenstand eines maßlosen Personenkultes. Ich habe versucht, sein Gesicht vom hagiographischen Firnis zu befreien, um diese schillernde Persönlichkeit besser erkennen zu können, die Boris Pasternak als ‚der Ozeanmensch Gorki‘ bezeichnet hat.“ (S. 10)

Dieses Anliegen hat Geir Kjetsaa in den meisten Kapiteln seines Buches vorbildlich umgesetzt. Unter dem Gorki-Motto „In Rußland darf ein Schriftsteller nie ein Freund der russischen Regierung sein“ geht der erfahrene Russist fundiert und kenntnisreich, mit einem spürbaren Hang zum Dokumentarischen der widersprüchlichen literarischen und weltanschaulichen Entwicklung eines der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts nach. „Kindheit an der Wolga 1868-188“, „Wanderjahre und erste Werke 1888-1889“, „Sturmvogel der Revolution 1898-1906“, „Im Ausland 1906-1913“, „Wieder in Rußland 1914-1921“, „Landflüchtig 1921-1928“, „Vorwärts! - und höher! 1928-1933“ und „Zerstörte Illusionen 1933-1936“ sind die 8 Teile überschrieben, in denen Maxim Gorkis Leben und Werk in seinen historischen Dimensionen, weltweiten Ausstrahlungen, persönlichen und gesellschaftlichen Konflikten analysiert wird. In jedem Teil erfährt der Leser viel Neues - Attraktives, Widersprüchliches, zuweilen Sensationelles - über das „Original“ Maxim Gorki, den literarischen Erben von Lew Tolstoi und Anton Tschechow, der zu einem der profiliertesten und international geschätzten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts heranwuchs. Geir Kjetsaa übersieht auch nicht die bornierte Haltung der Professoren Jensen und Karlgrens, die sich - ohne alle literarischen Werke Maxim Gorkis zu kennen - aus antisowjetischen Motiven gegen eine Nobelpreis-Verleihung an ihn aussprachen. (S. 335/336)

Selbstverständlich verdienen die Teile des Buches, die Gorkis Verhältnis zur Sowjetmacht beinhalten, das größte Interesse. Geir Kjetsaa ist auch hier nicht auf Sensationen, sondern auf differenzierte, exakte Analysen aus. Die lange schwelenden Konflikte Gorkis mit den Bolschewiki, erstmals 1910 auf Capri in größerem Umfang ausgefochten, kamen bereits unmittelbar nach 1917 zum Ausbruch, als der Schriftsteller die Machtübernahme der Lenin-Anhänger als „abscheuliche Tragödie“, als „brutalen Staatsstreich“ bezeichnete und voraussagte, daß die Bolschewiki an der Macht zu den gleichen Mitteln greifen würden, unter denen sie einst selbst gelitten hatten (S. 235). Als Herausgeber der Zeitung „Neues Leben“, die sich mit unzeitgemäßen Gedanken und Angriffen auf Lenin hervortat, bekannte er: „Wer auch immer die Macht in der Hand hat, ich lasse mir mein menschliches Recht nicht nehmen, an ihr Kritik zu üben.“ (S. 236)

Gorki war in den ersten Jahren der Sowjetmacht außerordentlich produktiv: Im Herbst 1918 gründete er den Verlag Die Weltliteratur, der das Fundament für eine beispielhafte weltliterarische „Volksbibliothek“ mit mehreren tausend Bänden legte - die Basis für den hohen Stand der Übersetzungsliteratur in der späteren UdSSR. Er organisierte mit seiner Autorität das Petrograder Haus der Gelehrten und ein Komitee zur Durchsetzung besserer Lebensbedingungen für Wissenschaftler. (S. 255) Er mobilisierte internationale Hilfe für das hungernde Rußland. Doch Schritt für Schritt steigerte sich die Auseinandersetzung mit den Bolschewiki, obwohl Lenin verschiedentlich die Hand schützend über den einstigen „Sturmvogel der Revolution“ hielt, und am Ende dieser Phase wurde Maxim Gorki nicht so sehr wegen schwacher Gesundheit, sondern aus politischen Gründen erneut nach Italien - gewissermaßen „in die Verbannung“ - geschickt.

Die letzten 3 Kapitel lassen die meisten Fragen offen: Nicht, weil Geir Kjetsaa weniger gründlich geforscht hätte als vorher, sondern weil der Untersuchungsgegenstand einiges Unerklärliche birgt. Wie konnte es geschehen, daß sich Maxim Gorki - ein entschiedener Gegner jeglichen Personenkultes - am Ende seines Lebens Stalin beugte, zumindest Kompromisse mit ihm einging? Gerade zur Beantwortung dieser Frage hat Geir Kjetsaa mit Hilfe des Moskauer Gorki-Instituts viel Neues aufbereitet: über Gorkis zögerliche Rückkehr 1928-1929 in die UdSSR, seine Reisen durch das Sowjetland, seine Besuche in Stalins Arbeitslagern, seine Haltung auf dem I. Sowjetischen Schriftsteller-Kongreß, Zeugenaussagen von zeitgenössischen Autoren, die Maxim Gorki unterstützte, Stellungnahmen von Romain Rolland, der Gorki ein Jahr vor seinem Tode besuchte und ihn „jetzt isoliert, traurig und verbittert“ (S. 402) vorfand, Situationsberichte von Gorkis Wolgareise mit dem nach ihm benannten Motorschiff, die für den großen Schriftsteller zu „einer einzigen Enttäuschung“ geriet: „In Nishni werden die Leute weggejagt, wenn sie versuchen, mit dem Sohn ihrer Stadt Kontakt aufzunehmen ... Auf dem Deck wimmelt es von Polizeispitzeln. Wenn fotografiert wird, müssen einige weiße Jacken anziehen, es sind nicht genug Matrosenuniformen vorhanden.“ (S. 402/403)

In einem Punkt allerdings regt Geir Kjetsaas Buch zur Diskussion an und könnte Ergänzungen vertragen: Es unterschätzt in den letzten 3 Kapiteln die persönliche Ausstrahlung Stalins, der als anerkannter Führer der Sowjetunion am Ende der 20er und in der ersten Hälfte der 30er Jahre - in einer Zeit, in der die gesamte bürgerliche westliche Welt tief in der Weltwirtschaftskrise steckte - etwas wirklich Neues, Revolutionäres hervorbrachte: die Elektrifizierung und Industrialisierung des ehemals rückständigen zaristischen Rußlands unter sozialistischen Vorzeichen. Hatte dieses Neue, Revolutionäre nicht auch Maxim Gorki tief beeindruckt, als er 1927 - noch im Ausland - bei einem Kamenew-Besuch erklärte: „Hier im Westen ist alles langweilig, nur bei uns zu Hause ist das Leben in Bewegung gekommen“ (S. 312)? Leider wird dieser konzeptionelle Ansatzpunkt von Geir Kjetsaa nicht mit der gleichen Intensität verfolgt, wie zum Beispiel heutige antistalinistische Dogmen wiedergegeben werden; es fehlen in den Schlußkapiteln bezeichnenderweise ausführliche, differenzierte Analysen der Berichte und Skizzen Maxim Gorkis von seinen Reisen durch die UdSSR. Das ist schade, denn mit einer genaueren, differenzierteren, der damaligen Zeit adäquaten Stalin-Charakteristik wären zwar die realen Widersprüche im Leben und Werk des großen Schriftstellers in einer historischen Aufbruchphase nicht aufgehoben worden, wohl aber hätten sie noch besser motiviert und erklärt werden können.

Gott sei Dank schränken derartige Einseitigkeiten den Gesamtwert der Gorki-Biographie von Geir Kjetsaa nicht entscheidend ein. Ist es doch eine Eigenschaft gelungener, verdienstvoller Bücher, daß sie nicht bloß fundierte, gesicherte Ergebnisse vorlegen, sondern auch Stoff für Diskussionean und weiterführende Debatten liefern. In Geir Kjetsaas Gorki-Buch ist dies von der ersten bis zur letzten Seite der Fall.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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