Eine Rezension von Ulrich Kalinowski

An- und Einsichten zu schweren Jahren

Woiciech Jaruzelski: Hinter den Türen der Macht
Der Anfang vom Ende einer Herrschaft.
Militzke Schulbuchverlag, Leipzig 1996, 478 S.

Am 18. Dezember 1981 - fünf Tage nach Einführung des Kriegsrechts in Polen - waren in der Hamburger „Zeit“ folgende Sätze des damaligen BRD-Kanzlers Helmut Schmidt zu lesen: „Ich glaube, daß Jaruzelski vor allem so handelt, wie es seiner Meinung nach den Interessen des polnischen Volkes am besten dient; in erster Linie ist er Pole. Erst in zweiter Linie macht er den Eindruck eines Militärs. Und erst in dritter Linie zeigt er sich als Kommunist.“ Nach Lesen des Buches von Jaruzelski denke ich - Schmidt hat recht, damals wie heute.

Wojciech Jaruzelski, 1923 als Sohn einer alten polnischen Adelsfamilie geboren, Schüler eines von Priestern geführten Gymnasiums, nach Kriegsbeginn bei der Flucht in den Osten wie so viele Polen der Oberschicht ins sibirische Arbeitslager gesteckt und nach der Freilassung mit der in der Sowjetunion aufgestellten polnischen Armee Teilnehmer der Kämpfe bis nach Berlin, im Nachkriegspolen als Berufsmilitär in immer höheren Funktionen bis zum Verteidigungsminister, schließlich Premier und 1. Sekretär der führenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei - er ist in die Geschichte als derjenige eingegangen, der das Kriegsrecht über das Land verhängte, als er keinen anderen Ausweg mehr sah - es sei denn wirtschaftlicher und politischer Zusammenbruch, möglicherweise Bürgerkrieg, wahrscheinlich „brüderliche Hilfe“ der Warschauer-Pakt-Staaten, was im Klartext Einmarsch bedeutet hätte. In eine objektive Geschichtsschreibung gehört er aber auch als derjenige, unter dessen Herrschaft sich im Frühjahr 1989 in Polen der Runde Tisch aller gesellschaftlichen Kräfte formierte und den friedlichen Systemwechsel zum nachkommunistischen Polen vorbereitete.

Jaruzelski zeichnet aus seiner Sicht nach, wie es zum Kriegsrecht kam. Er bringt eine Unmenge an Fakten, Zahlen und Zitaten, deren Wiedergabe auch nur andeutungsweise hier nicht möglich ist. Wer aber an diese Jahre mehr als die Erinnerung eines politischen Klippschülers hat, dem kommt die ganze Bedrohlichkeit der Situation in damaliger Zeit wieder ins Gedächtnis. Mein Gott, auf was für einem Pulverfaß haben wir gelebt (was nicht bedeutet, daß heutige Bedrohungen durch gesellschaftliche, wirtschaftliche, ökologische oder auch militärische Gefahren in weiten Teilen der Welt geringgeschätzt werden sollten): Raketenaufrüstung in Mitteleuropa Ost und West durch SS 20 und Pershing 2, Afghanistan-Krieg der Sowjetunion, US-Präsident Reagans Visionen vom „Krieg der Sterne“ mit Zielrichtung „Reich des Bösen“ Sowjetunion ... Die „Was wäre, wenn“-Frage, die der Historiker nach Möglichkeit vermeiden sollte, denn sein Metier ist die tatsächlich abgelaufene Geschichte, die aber der Politiker in einer konkreten Situation im vorhinein anhand aller denkbaren Varianten durchspielen muß und die dem Journalisten auch im nachhinein erlaubt ist, bleibt natürlich offen - aber ist es so undenkbar, daß Polen damals den zündenden Funken hätte hervorbringen können?

Jaruzelskis 1992 geschriebenes und erst jetzt in deutscher Übersetzung vorliegendes Buch ist spannend, auch wenn es die spröde Sprache des Militärs ist. Und ich habe auch den Eindruck, daß es weitgehend ehrlich und nicht Rechtfertigung eigenen Handelns im Sinne einer Reinwaschung ist. Dort, wo er über Begegnungen mit Personen schreibt, bemüht er sich um eine differenzierte Sicht: ob zu Breshnew oder Honecker, „Solidarnosc“-Führer Walesa oder Kardinal Glemp - wenig gerät ihm apodiktisch, da ist weder etwas zu merken von Betonkopf noch von Wendehals. Immer ist das Bemühen spürbar, auch Mächtige in ihren Zwängen zu begreifen und nicht Erkenntnisse von heute auf damals zu übertragen.

Um noch einmal die Rangfolge von Helmut Schmidt aufzugreifen: Der Pole Jaruzelski sagt über sich: „Am wichtigsten ist, daß ich damals (1945 als Kriegsteilnehmer - U. K.) wie heute den Dienst für den real existierenden polnischen Staat - für Polen, ‚wie es auch aussehen mag‘ - allem anderen überordne.“ (Hier sei angefügt, was Walesa in einem 1990 im ECON-Verlag erschienenen Buch über Jaruszelski meinte: „Er tat für Polen, was er konnte. Die Akten werden es dereinst ausweisen.“) Der General findet den erstaunlichen Satz: „Ein ruhmreicher Tod ist - wie irgend jemand mal treffend gesagt hat - eine Legende, die in der Regel von Menschen in die Welt gesetzt wird, die selbst quicklebendig sind und gern möchten, daß andere bereit sind zu sterben.“ Und der ehemalige 1. Sekretär der PVAP meint zu dem Gesellschaftssystem, über das diese Partei herrschte: „Der Sozialismus hat sich selbst das Grab gegraben, obwohl er in einem historisch kurzen Zeitraum Millionen Menschen aus Elend und Rückständigkeit herausgerissen hat. Der Fortschritt dieser Menschen war das große Verdienst des Sozialismus. Der Mangel an Freiheiten war seine Niederlage.“

Man mag ihm nicht in allem folgen, aber beachtenswert ist diese Haltung schon.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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