Eine Rezension von Bernd Sander

Völlig ohne Gewalt

Hans-Hermann Hertle: Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989.
Christoph Links Verlag, Berlin 1996, 338 S.

Bereits in der dritten Auflage ist Hertles Buch Chronik des Mauerfalls erschienen und erfreut sich weiterer Nachfrage. Das zeugt ohne Zweifel von dem noch immer vorhandenen Interesse an diesem einmaligen historischen Ereignis in der deutschen Geschichte, aber auch von der Qualität dieses Buches.

Hertle behandelt bewußt in seinem Vorwort „Schabowskis Zettel“ jenes bis heute undurchsichtige Ereignis, was zur sofortigen und überraschenden Öffnung der Grenzen zur Bundesrepublik führte und unaufhaltsam den Untergang der DDR beschleunigte. „Um Schabowskis Pressekonferenz ranken sich bis heute Legenden“ (S. 7) schreibt Hertle und wirft eine Vielzahl von Fragen nach dem oder den Verantwortlichen für die unerwartete Maueröffnung auf, ohne sie jedoch beantworten zu können. Er geht im Mittelteil seines Buches ausführlich auf diese Pressekonferenz ein und auf die heillose Verwirrung, die im In- und Ausland danach herrschte. Selbst Egon Krenz soll ratlos gefragt haben: „Wer hat uns das bloß eingebrockt“ (S. 7), aber um sich später diese Entscheidung selber zuzuschreiben.

Der Autor kehrt zunächst in die Geschichte zurück, in die Zeit des Beginns des Mauerbaus, da dies wichtig für die Novemberereignisse ist. Damit ist dieses Buch zugleich eine Gesamtgeschichte der Mauer.

Er behandelt dann fast minutiös genau das Geschehen im Oktober und November 1989. Der Leser erfährt, wie die neue Staats- und Parteiführung, eng verbunden mit der Vergangenheit und gefangen in dem Bestreben nach Erhalt der (wenn auch reformierten) sozialistischen Gesellschaftsordnung, hilf- und ratlos von einer Beratung in die andere taumelte, wie von ihr die verschiedensten (halbherzigen) Reformversuche unternommen wurden und wie man voller Hast auf einen großzügigen BRD-Kredit drängte, um den Zusammenbruch der DDR aufzuhalten. Obwohl die BRD-Regierung zu jenem Zeitpunkt noch mit verbindlichen Kreditzusagen zögerte, machte dennoch „am Morgen des 8. November ... der Bundeskanzler in der Debatte des Bundestages zur Lage der Nation seinen Forderungskatalog öffentlich: Wenn die SED auf ihr Machtmonopol verzichtet, unabhängige Parteien zulasse und freie Wahlen verbindlich zusichert, sei er bereit, ‚über eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen‘“ (S. 108). Spätestens hier wird klar, daß die BRD-Regierung zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit einem Zusammenbruch der DDR gerechnet hat. Diese geforderten Zugeständnisse machte die DDR-Führung dann auch, aber da war alles bereits zu spät. Die Würfel waren längst gefallen, und einen Tag später, am 9. November, gab die DDR dann auch die Öffnung der Mauer bekannt.

Hertle macht mehrmals deutlich, wie überraschend für die BRD-Regierung die Öffnung der Mauer und die daraus resultierenden Möglichkeiten einer Wiedervereinigung auf friedlichem Weg waren. „Auf eine Verbesserung der Reisemöglichkeiten noch im Jahr 1989 war man im Bundeskanzleramt durch die Schalck-Besuche vorbereitet, nicht aber auf den Fall der Mauer“ (S. 244).

Der Fall der Mauer hatte nicht nur enorme nationale Auswirkungen, sondern auch große internationale Bedeutung, denn „die Trennlinie zwischen den feindlichen Armeen des Warschauer Paktes und der Nato war faktisch aufgehoben ... und das ausgeklügeltste Grenzregime der Welt ausgehebelt“ (S. 211).

Ausführlich behandelt Hertle die Vielzahl der Beratungen der Partei- und Staatsführung sowie der obersten Gremien der NVA und Staatssicherheit, auf denen immer wieder die Option erörtert wurde, ob man bewaffnete Gewalt gegen die Bevölkerung auf den Straßen einsetzen sollte. Polizei, Armee und Staatssicherheit wurden zwar in höchste Alarmbereitschaft versetzt, aber man verzichtete schließlich auf offene Gewaltanwendung (und zu diesem Zeitpunkt auch auf verdeckte Gewalt), schon deshalb, weil es auf der Straße auch zu keinerlei gewaltsamen Ausschreitungen kam. Der Rezensent ist der Auffassung, daß die durchgängige Gewaltlosigkeit auf beiden Seiten das Entscheidendste und Wichtigste dieser historischen Tage war und nicht hoch genug gewürdigt werden kann.

Hertle geht im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des DDR-Regimes und der Öffnung der Mauer auch ausführlich auf die Rolle von Michail Gorbatschow und die Haltung der Westalliierten ein.

Der Autor hat sechs Jahre an dem Buch gearbeitet und dafür die entsprechenden authentischen Unterlagen in den Archiven und Veröffentlichungen in den Medien ausgewertet sowie mit über 100 Zeitzeugen, darunter Entscheidungsträger der DDR, gesprochen. Das hat seinen Niederschlag in einer interessanten Publikation gefunden, die zugleich durch den chronologischen Aufbau zu einem wichtigen Nachschlagewerk für die historischen Ereignisse um den 9. November 1989 in der ehemaligen DDR geworden ist.

Besonders erwähnenswert in dem umfangreichen Anhang ist eine Aufstellung jener Zeitzeugen, mit denen Hertle sich austauschen konnte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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