Eine Rezension von Kurt Wernicke

Acht Jahrhunderte Berliner Stadtgeschichte

Manfred Haack: Bundeshauptstadt Berlin
Politisch-historischer Stadtführer.
J. H. W. Dietz Nachf. Verlag, Bonn 1995, 190 S.

Das in der Reihe „Politik im Taschenbuch“ als Nr. 14 erschienene Buch gibt mit seinem lapidaren Titel - was in letzter Zeit beim politischen Sachbuch immer offensichtlicher grassiert - mitnichten den Inhalt wieder. Tatsächlich ist das, was man gemeinhin unter einem „Stadtführer“ zu verstehen pflegt, bei Haack sehr unterbelichtet: Nach einer brillanten sechsseitigen Einleitung zum Thema „Berlin und die Berliner“ sind ganze 14 Seiten fünf Fahrten bzw. Spazierkursen durch die Stadt gewidmet - zugegeben in einer überzeugend verdichteten Art, die beim Leser sicher das Verlangen weckt, auf ebendiesen Pfaden einmal den Versuch zu unternehmen, sich den verschiedenartigen Gesichtern der Berliner Stadtlandschaft zu nähern. Aber dieser erste Teil steht doch weit, weit im Schatten des inhaltlichen Hauptteils, nämlich einer Geschichte Berlins von 1190 bis 1990. Der Rezensent, selbst nicht unerfahren auf dem Gebiet der Vermittlung von Berlin-Geschichte, bekennt freimütig, daß ihm ein ähnlich schlüssiger und kompakter Abriß der Geschichte seiner Heimatstadt noch nicht untergekommen ist: Haack, ein Kind des Prenzlauer Bergs, das dort bis 1961 zur Schule gegangen ist, dann in West-Berlin Abitur, Studium und Einstieg in den Beruf bewältigt hat und seit 1975 als Mitarbeiter im Berliner Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung tätig (also durch und durch Berliner!) ist, handhabt, an Eduard Bernstein - und offenbar überhaupt an marxistischer Geschichtsbetrachtung - geschult, die Darstellung der Grundlinien sozio-ökonomischer Strukturentwicklung in dem jeweiligen Administrativgebilde Berlin durch die betrachteten acht Jahrhunderte in exzellenter Manier. Dabei scheut er sich auch nicht, eingeschliffene Bewertungsraster kritisch zu hinterfragen, was z. B. bei der leidenschaftslosen Kommentierung des Hobrechtschen Bebauungsplanes samt seiner Folgen oder auch der unvoreingenommenen Sicht auf das Berlin der Weimarer Republik (die angeblich so „goldenen“ Zwanziger, die nur von einer hauchdünnen Schicht Intellektueller und Künstler so empfunden, von diesen aber dafür um so lautstarker der Nachwelt gerühmt wurden) besonders angenehm auffällt. Schon geradezu rituell wiederholte journalistisch-politische Urteile über bestimmte Krisensituationen in der Berliner Geschichte im 20. Jahrhundert (z. B. der „Spartakistenaufstand“ vom Januar 1919, der jüngst in Berlin-Köpenick sogar dafür hinhalten sollte, ein Denkmal für die Opfer der Köpenicker Blutwoche 1933 in Verruf zu bringen ...) haben vor Haacks sezierenden Analysen wenig Bestand. Mit genauso nüchternem Augenmaß bewertet er - als Zeitzeuge - die Entstehung und Lösung (bzw. Nichtlösung) der Problemknäuel im Berlin des Vier-Mächte-Status 1945-1990. Die jeweiligen Ansprüche und Sprücheklopfereien an diesem sensiblen Punkt der weltweiten Polarisation von Supermachtpolitik entkleidet er ihrer Rhetorik und führt die nüchtern kalkulierten Machtinteressen vor - nicht, ohne den Berlinern in Ost wie West zu bescheinigen, wie leicht sie dem jahrhundertelang hierorts besonders intensiv geübten Brauch der Selbsttäuschung und Selbstüberhebung gefolgt sind und sich tatsächlich als eine Art Nabel der Welt ansahen, wobei in beiden Stadthälften für selbstverständlich angenommen wurde, daß man es ja aus diesem Grund verdient habe, vom jeweiligen Hinterland hypertroph subventioniert zu werden - eine Lage, mit der man sich in der Gropiusstadt genauso bequem eingerichtet hatte wie in Hellersdorf.

Ein dritter Teil des Buches widmet sich (S. 162-182) dem wiedervereinten Berlin und listet die Probleme so auf, wie sie fernab jedes rhetorischen Zweckoptimismus im Raum stehen: das Verschwinden auch der letzten Reste eines Industriezentrums, Strukturkrise der Gesamtwirtschaft, übersteigerte Erwartungen hinsichtlich einer Funktion als Drehscheibe angesichts absoluter Ungewißheit über die künftigen ökonomischen Potenzen Osteuropas - aber begründete Hoffnung auf eine Zukunft als Standort von Wissenschaft und Forschung, verbunden mit den Potentialen einer Dienstleistungsmetropole, die sich aus der Funktion als Parlaments- und Regierungssitz ergeben wird. Bei der Erörterung dieses Punktes polemisiert Haack in seiner im ganzen Buch so angenehm berührenden knappen, aber stets überzeugenden Art mit den diversen Argumenten der Bonn-Lobby; bloß begibt er sich in der Polemik, die er selbst wohl am schlüssigsten ansieht, auf Glatteis: „Wenn die Hauptstadtentscheidung des Grundgesetzes im Lichte des Jahres 1990 zur Option zurückgenommen werden konnte, dann wäre das theoretisch auch für das Wiedervereinigungsgebot möglich gewesen“ (S. 164) greift insofern nicht, als das Grundgesetz wohlweislich gar keine Aussage zur bundesdeutschen Hauptstadt getroffen hat! Ein treffendes Argument bringt Haack dagegen nicht: das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. 7. 1973 zum deutsch-deutschen Grundvertrag, das die Bundesrepublik (25 Jahre nach der Ausarbeitung des Grundgesetzes, dessen Väter eine genau entgegengesetzte Motivation für ihr Tun bemühten) nicht etwa als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches definierte, sondern als das - auf einem Teil seines ursprünglichen territorialen Bestandes - weitergeführte Deutsche Reich! Wenn also die Bundesrepublik kongruent ist mit dem Deutschen Reich, war eine Abstimmung über den Regierungssitz am 20. 6. 1991 überflüssig, denn Regierungssitz des Deutschen Reiches war seit dessen Ins-Leben-Treten Berlin!!! Was hält also die deutsche Politik von den grundsätzlichen Urteilen ihres obersten juristischen Verfassungsorgans, wenn es um Lobbyinteressen geht?

Bei so allgemein verdientem Lob für eine publizistische Meisterleistung fällt es schwer, auf kleine Defizite hinweisen zu müssen, die offenbar Flüchtigkeit geschuldet sind. Nein, die Gustav-Adolf-Straße in Weißensee heißt nicht nach Gustav-Adolf Schur (wo lebte doch Haack bis 1961? Am Prenzlauer Berg!), aber sie heißt auch nicht nach dem Schwedenkönig Gustav II. Adolf Wasa (S. 26), sondern nach Gustav Adolf Schön, einem der Bauspekulanten bei der Aufsiedlung des Ritterguts Weißensee. Das Gebäude in Berlin-Karlshorst, wo sich das befindet, was Haack „das Historische Museum der Sowjetarmee“ nennt, war keineswegs fast 50 Jahre lang das Hauptquartier von deren Westgruppe (S. 21). Etwas peinlich berührt angesichts der in Berlin so nachhaltig herausgearbeiteten tapferen Tat des Polizisten Krützfeld, der die Synagoge in der Oranienburger Straße in der „Kristallnacht“ vor der Brandstiftung rettete, die Bildunterschrift auf S. 120: „Die in der Pogromnacht 1939 ausgebrannte ... Synagoge in der Oranienburger Straße“. Und der Herkunft aus der Friedrich-Ebert-Stiftung ist wohl die Fehlleistung auf S. 186 geschuldet, wo bei der Vision für die Silvesternacht 1999 zwar von Silvesterparties von SPD (die allen voran), CDU, GRÜNEN und FDP berichtet wird, aber eine in Berlin nicht unbekannte Partei unerwähnt bleibt, die im Abgeordnetenhaus die drittstärkste Fraktion stellt ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite