Eine Rezension von Walter Unze

Beiträge zur Zeitgeschichte

Joachim Fest: Fremdheit und Nähe
Von der Gegenwart des Gewesenen.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1996, 344 S.

Bei einer Aufsatzsammlung dieses Autors erwartet man geradezu neue Wortmeldungen zum Thema Hitler, Diktatur und Totalitarismus. Und man wird nicht enttäuscht. Zugleich imponiert der gebürtige Berliner Joachim Fest (1926) zu seinem 70. Geburtstag mit einer erstaunlichen Breite und Vielfalt seiner Interessen und Themen. Die 16 Beiträge aus den Jahren 1982 bis 1995 reichen von der Spätrenaissance über die Klassik bis in die Gegenwart. Goethe steht neben Graham Greene, Ernst Jünger neben Thomas Mann, Richard Wagner neben Bernhard Heisig. Natürlich nimmt die NS-Zeit - allein mit vier direkten Beiträgen - einen gewichtigen Platz ein. Aber auch Prozesse der jüngsten Zeit haben Fest herausgefordert, „Überlegungen am Ende des Jahres 1989“ anzustellen und erneut über „Wanderungen des deutschen Sonderbewußtseins“ nachzudenken. Im knappen Vorwort verweist er auf das durchaus subjektiv geprägte Auswahlprinzip der veröffentlichten Aufsätze. Zugleich spricht er von einer „grundierenden Farbe“ der meisten Beiträge, nämlich dem „Grundzweifel am Menschen“, einem Skeptizismus, der auf älteste Traditionen zurückgehe. Fest will also seine historischen Darstellungen und Überlegungen verstanden wissen als Untersuchungen zur „Gegenwart des Gewesenen“, ganz im Sinne des amerikanischen Kulturkritikers Thoreau, den Fest zitiert: „Die Aufgabe des Historikers besteht nicht darin, herauszufinden, was war, sondern was ist.“ (S. 11)

Bereits in den ersten Aufsätzen der Sammlung, vor allem in „Goethes Fremdheit und Nähe“, dem Versuch über Graham Greene „Kein Ende der Affäre mit Gott“ sowie der Betrachtung zu Ernst Jünger „Würde auf engstem Raum“ wird spürbar, wie sich der Autor immer wieder an den unterschiedlichsten Gegenständen und verschiedenen Aspekten her mit der Frage beschäftigt, wie man denn mit dem „tief in der menschlichen Natur verwurzelten Bösen“ umgehen muß, damit man „ein Zusammenleben frei von Angst“ gestalten könne (S. 10). Es ist die immanente Auseinandersetzung mit den von ihm so benannten Selbsttäuschungen der Aufklärung, wonach es einen angeborenen Sinn des Menschen für Vernunft und Moral gebe.

Ebendiese Auseinandersetzung bildet auch den Kern jener Beiträge, die sich mit der NS-Zeit, ihren Repräsentanten und ihren Folgen befassen. Insbesondere in der Studie über Heinrich Himmler „Die andere Utopie“ und der Einleitung „Zeitgenosse Hitler“ zur Neuauflage seines Hitler-Buches zieht Fest aus der Analyse der NS-Diktatur und der in ihr wirkenden Führungskräfte die wohl zentrale Schlußfolgerung, daß die folgenreichste Hinterlassenschaft dieser Zeit der Schrecken darüber sei, wozu der Mensch gegen den Menschen fähig ist: „Der jahrhundertealte zivilisatorische Optimismus, der sich so viel auf die Bändigung der barbarischen Instinkte zugute hielt, das ganze evolutionäre Grundvertrauen in eine Welt, die trotz aller Aufhaltungen und Rückschläge zuletzt auch moralisch dem Besseren entgegengehe, ist durch Hitler ans Ende gelangt. Aufs ganze gesehen hat er die schöne Selbsttäuschung aufgedeckt, die dem seit der Aufklärung herrschenden Menschenbild zugrunde lag.“ (S. 184/185)

Man muß nicht mit dem Autor in seinem Skeptizismus übereinstimmen, man muß auch nicht seine Meinung über die Ähnlichkeit faschistischer und sozialistischer Utopien teilen - und doch wird man nachdenklich bei dieser mit konservativen Begründungen vorgetragenen Warnung, daß neue Verheißungen dieser Art jederzeit wieder mobilisierbar seien. Für Fest jedenfalls deuten alle von ihm vorgelegten Einzelbetrachtungen in diese Richtung. Das zeigt sich auch in seinen Überlegungen zu den gesellschaftlichen Umbrüchen in Osteuropa und der DDR. Die daraus abzuleitende, für manche schmerzhafte Lektion der Epoche sieht er darin, daß die Sehnsucht nach einer Welt der Eintracht, Ordnung und Gerechtigkeit nichts als ein Trugbild darstelle.

Man muß der einzelnen Analyse des Autors nicht zustimmen, man kann sogar eine entgegengesetzte geschichtsphilosophische Grundposition vertreten, doch einem kann man sich nicht verschließen: Die Lektüre fast aller Beiträge führt den Leser zum Nachdenken über das Heute, das Gewesene wird zum Impuls, sich über die Gegenwart Gedanken zu machen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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