Eine Rezension von Eberhard Fromm

Komplettes Stückwerk

Erhard Eppler: Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik
Insel Verlag, Frankfurt/M. 1996, 299 S.

Daß man bei diesem Autor auf sein neues Buch gespannt sein durfte, war wohl jedem klar, der zumindest seine Briefe an meine Enkelin (1994) gelesen hatte. Erhard Eppler (1926) macht zwar gleich eingangs darauf aufmerksam, daß er nicht so weitermachen konnte, wie er in den „Briefen“ über seine Kindheit und Jugend geschrieben hatte. Und doch spürt man auch in dieser neuen Arbeit des sozialdemokratischen Politikers seine Absicht, die erlebte Zeit erzählend zu bewältigen. Es sollte, wie er im Vorwort betont, weder eine Autobiographie werden, noch hatte er vor, Memoiren zu schreiben. Er berichtet und reflektiert vielmehr über jene Zeit, in der er politisch handelnd tätig war. Und indem er von den Ereignissen und den Menschen, den Überlegungen und Ergebnissen, den Erfolgen und den Niederlagen erzählt, vermittelt er nicht nur Zeitgeschichte, sondern zugleich Erfahrungen und Einsichten über ein so sprödes Gebiet wie die Politik.

Eppler geht beim Aufbau seines Buches chronologisch vor. Er beginnt mit den unmittelbaren Nachkriegsjahren (Kap. 1: Lehrjahre der Demokratie) und endet mit seinem Wechsel aus der Bonner in die baden-würtembergische Szene (Kap. 10: Von der Macht des Ohnmächtigen). Die beiden abschließenden Kapitel „Begegnungen“ - hier skizziert er Eindrücke über Personen von Fritz Erler bis Hermann Höcherl, von John F. Kennedy bis Salvador Allende und Kim Il Sung - und „Ist alles, sind alle eitel?“, wo allgemeinere Fragen des Politikverständnisses diskutiert werden, tragen einen etwas anderen Charakter und sind daher wohl mit Absicht an das Ende verwiesen worden.

Inhaltlich kommen bei diesem Autor natürlich viele Grundfragen der politischen Entwicklung der vergangenen fünfzig Jahre zur Sprache. Vor allem sind das Probleme der Sozialdemokratischen Partei - schließlich gehörte Eppler viele Jahre dem Präsidium der SPD an und war von 1975 bis 1992 Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD. Einen ähnlichen Stellenwert haben Fragen der Dritten Welt - Eppler diente immerhin von 1968 bis 1974 als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Schließlich sind es die immer enger miteinander verbundenen Fragen der Ökologie und der Friedenssicherung, die ihn bewegten und sein politisches Handeln prägten. Alles zusammen ergibt ein Bild von der Politik und eine Vorstellung über die Politik, die in ihrem Zentrum zu einer überraschenden Grundeinsicht führen: Politik, das sind zu 90 Prozent Menschen und zu zehn Prozent Ideen. (vgl. S. 73 f.) Zwar wehrt sich Eppler gegen diese Ansicht eines britischen Diplomaten, als er sie zum erstenmal hört. Aber schließlich wird sie zu einer seiner entscheidenden Maximen für die Einstellung zur Politik überhaupt. Und demzufolge spielen auch die Berichte über die in der Politik handelnden Personen eine so große Rolle bei Eppler. Man erfährt nicht nur interessante Details über sein Verhältnis zu Willy Brandt, zu Herbert Wehner oder Helmut Schmidt; zugleich und vor allem wird deren Politikverständnis lebendig und das darauf beruhende politische Handeln.

Für Eppler kam es - vor allem durch seine Arbeit auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe - zu einem deutlichen Bruch in der Zielbestimmung von Politik. War bisher die Politik - auch für ihn - wesentlich darauf ausgerichtet, Fortschritt und Wachstum zu garantieren und zu beschleunigen, so formulierte er zu Beginn der siebziger Jahre eine andere Position. Es müsse darauf ankommen, die moderne Gesellschaft auf eine Zeit vorzubereiten, „in der es weniger darauf ankam, wieviel wächst, als was wächst und was besser nicht wachsen sollte“. (S. 113) Für Eppler war der handelnde Politiker „ein Knecht der Wirklichkeit, der Knecht seiner Aufgabe, die immer mit der Zukunft, mit dem, was danach kommt, zu tun hat“. (S. 107) Da er von dieser Haltung aus für Sachbesessenheit und nicht für Machtbesessenheit in der Politik eintrat, war es nicht verwunderlich, daß man ihn bald zum Moralisten in der Politik abstempelte. Und von dieser Position aus äußert er sich auch recht klar und sorgenvoll zur gegenwärtigen Situation in der SPD, wobei er vor allem „den wachsenden Narzißmus in der Führung, das selbstverliebte Kreisen mancher Führungsfiguren um sich selbst und die daraus erwachsende Rücksichtslosigkeit gegenüber der Gesamtpartei“ (S. 157) attackiert.

Politische Macht entsteht nach Auffassung von Eppler dort, wo sich Bewußtsein bildet und wandelt. Dem Bewußtsein traut er enorm viel zu: „Die Macht kommt letztlich nicht aus den Gewehrläufen, sondern aus dem Bewußtsein der Menschen.“ (S. 202) Dieses Bewußtsein öffentlich zu machen und zu diskutieren, darin sieht er die wichtigste Aufgabe der Intellektuellen in der Politik.

Diese Ansichten fand der Autor besonders deutlich im Zusammenbruch des sozialistischen Systems bestätigt. Eppler berichtet nicht nur ausführlich über die Kontakte und Gespräche zwischen der SPD und der SED, er beschreibt auch seine „Drei-Säulen-Theorie“ zur Analyse der Länder in Osteuropa, wonach dort nur solange eine gewisse Stabilität zu erhalten sei, wie man sich auf den Nationalismus, auf wirtschaftliche Erfolge und auf die Furcht vor den Deutschen stützen konnte. Nachdrücklich setzt er sich mit einer Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus im Rahmen einer Totalitarismussicht auseinander, gegen die er sich wendet. Dabei führt er vor allem auch das unterschiedliche Ende beider Systeme ins Feld: „Vielleicht war es der humanistische Pfahl im Fleische des Kommunismus, der das unblutige Ende ... möglich machte.“ (S. 29) Gerade dieser unblutige Zusammenbruch provoziert Fragen bei dem stets nachdenklichen Eppler, der sich seit 1989 darüber wundert, „wie wenig wir uns darüber gewundert haben, wie wir das ganz und gar Unerwartete konsumiert haben, als hätte es uns zugestanden. Und wie wenig wir darüber nachgedacht haben, warum es so kam.“ (S. 199)

Indem Erhard Eppler über sein politisches Handeln in den zurückliegenden fünfzig Jahren erzählt und dabei zugleich nach dem Wie und Warum des Handelns und der Handelnden fragt, regt er zu Nachdenken über das politische Leben heute und morgen an. So ist denn dieses Buch zu einer spannenden Erzählung über die vergangenen fünfzig Jahre geworden und zugleich zu einem unterhaltsamen Lehrbuch über die Theorie und Praxis der Politik.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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