Eine Rezension von Ursula Reinhold

Die Revolution im Auge - nicht die Karriere

Gretchen Dutschke: Rudi Dutschke. Wir hatten ein barbarisches,
schönes Leben Eine Biographie.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996, 512 S.

Mit der Biographie über Rudi Dutschke, den Studentenführer und Protagonisten der APO, liegt ein wichtiger Beitrag zur jüngsten deutschen Zeitgeschichte der Bundesrepublik aus der Perspektive ihrer kritischen Opposition vor. Anders als der ebenfalls jüngst besprochene Lebensbericht von Till Meyer, einem Akteur der terroristischen Szene der 7Oer Jahre, haben wir mit dieser Darstellung ein Stück analytischer Aufarbeitung der Studentenbewegung, der außerparlamentarischen Opposition der 6Oer Jahre, über ihr Verebben in unfruchtbaren Strategiediskussionen in den 7Oer Jahren bis zur Entstehung der ökologischen und Friedensbewegung am Ende des Jahrzehnts vor uns. Im Unterschied zu Meyer, der sich im Umfeld sozialen Außenseitertums bewegte, vermittelt Dutschkes Biographie mit den Einblicken in die Geschichte der Studentenbewegung vor allem auch ein Stück Ideologiegeschichte des sozialistischen Denkens in der Bundesrepublik, die die terroristische Fetischisierung von Gewalt ablehnte. Die Biographin Gretchen Dutschke, eine deutschstämmige Amerikanerin, die Theologie und späterhin Ernährungswissenschaft studiert hat, schafft es, die Nähe zum Gefährten und Vater ihrer Kinder mit historischer Objektivität zu koppeln, sich zu ihrem Gegenstand wirklich historisch zu verhalten. Sie rekonstruiert Dutschkes Denken aus seinen Schriften und Reden und wertet neue Quellen aus, wie bisher unveröffentlichte Notizen, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen. Sie kann damit das Spannungsfeld seines Denkens zwischen christlich-sozialistisch intendierter Gesellschaftsperspektive, Suche nach politischen Einwirkungsmöglichkeiten und der theoretischen Arbeit an entsprechenden politischen Handlungs- und Organisationsformen bestimmen. Die Darstellung geht den Prägungen der Kindheits- und Jugendjahre in der DDR nach, skizziert Dutschkes West-Berlin- Erfahrung als mittelloser Student und berichtet über Aktivitäten in der außerparlamentarischen Opposition der 6Oer Jahre, deren zunehmende Politisierung durch Notstandsgesetze und Vietnamkrieg. Es werden Einblicke in die Geschichte der Studentenbewegung, vor allem des SDS bis zu dessen Selbstauflösung gegeben, und es wird das öffentliche Klima rekonstruiert, das in den Auseinandersetzungen um den Schah-Besuch, um die Anti-Springer-Kampagne und die damit verbundenen Polizeieinsätze das Klima für den Attentäter auf Dutschke schuf. Die 7Oer Jahre werden aus der Perspektive der sektiererischen Aufspaltung und Auseinandersetzungen unter den sozialistischen Kräften erfaßt, aber auch in der widersprüchlichen Umorientierung der Regierungspolitik durch die sozial-liberale Koalition zwischen neuer Ostpolitik und Berufsverbot. Für die sozialistischen Kräfte in der Bundesrepublik wird die anhaltende Reibung an den real-sozialistischen Verhältnissen zum Menetekel. Im Unterschied zu den Protagonisten der Entspannungspolitik hält Dutschke auch in dieser Situation an einem nationalen Vereinigungskonzept fest, das freilich die revolutionäre Umgestaltung in der DDR und der BRD zur Voraussetzung haben sollte. Dutschkes Denken ist tief im Marxschen Denken und in der internationalen Arbeiterbewegung der 2Oer Jahre verankert, er hält am Emanzipationsgedanken fest und kritisiert von ihm aus die Praxis in den real-sozialistischen Ländern, in denen „alles real bis auf den Sozialismus ist“. Er sucht in der Geschichte der kommunistischen Bewegung nach Vorstellungen, die den Rätegedanken weiterzuentwickeln suchen und ihn mit bürgerlichen Demokratieformen verbinden. Seine Kritik an Lenins Organisationsvorstellungen bringt ihn auf die spezifisch russischen Verhältnisse, die die Entstehung des Stalinismus begünstigten. In seiner anhaltenden Suche nach politischer Strategie und entsprechenden Organisationsformen, um die primär sein Denken kreist, bleibt er in überraschender Weise - wenn auch negativ - auf Lenin und die Parteifrage fixiert. Dennoch nimmt er in den 70er Jahren im Zusammenhang mit der neu entstehenden ökologischen Opposition durchaus neue Erfahrungen auf, die er im Ansatz auch zu verarbeiten sucht. Einen großen Einfluß auf sein Denken haben Karl Korsch, Karl August Wittfogel, den er noch kurz vor dessen Tod nach Westdeutschland einlädt. Beeinflußt ist er durch Herbert Marcuse und Ernst Bloch, von deren Regeneration des Emanzipationsgedankens er sich anregen läßt. Dutschke erscheint in seinem strategischen Bemühen als Kommunikationszentrum undogmatischen sozialistischen Denkens der damaligen Jahre. Die Erfahrung des Attentats treibt ihn außer Landes, seine Aufenthalte in England, Dänemark, Italien und Holland bringen es mit sich, daß er zum Kommunikator in europäischer Größenordnung wird. Von den Protagonisten des SDS und der Studentenbewegung wie Bernd Rabehl, Wolfgang Lefebre, Fritz Teufel bis zu Repräsentanten des christlichen und staatlichen Lebens wie Helmut Gollwitzer, Gustav Heinemann, Martin Niemöller reichen seine Kontakte. Vertreter der APO, die in der Folgezeit unterschiedliche Wege gingen, wie Horst Mahler, Ulrike Meinhoff, Joschka Fischer, Hans Brückner, Wolfgang Neuss, Daniel Cohn-Bendit u. a. sind seine Partner, wie solche der universitären Linken, zu denen Jürgen Habermas, Oskar Negt, Wolfgang Abendroth, Günther Amendt u. a. gehören. Erfahrungen von Protagonisten aus der 3. Welt (Franz Fanon, Gaston Salvatore, Bahman Nirumand) nimmt er ebenso auf wie die Bemühungen unabhängiger Sozialisten und Eurokommunisten um die Erneuerung ihrer Parteien (Feltrinelli, Erich Fried, Carillio u. a.). und die Kämpfe von Bürgerrechtlern aus den sozialistischen Ländern (Wolf Biermann, Adam Mischnik, Vaclav Havel u. a.). Beeindruckend an der Persönlichkeit Dutschkes ist die Vehemenz und Energie, mit der er nicht eine Karriere, sondern die Revolution im Auge behielt, sein Idealismus, seine Fähigkeit, sich einer als richtig erkannten Sache zu widmen. Die Biographin konturiert die daraus erwachsenen Spannungen zwischen den persönlichen, familiären und politischen Bestrebungen, die die Persönlichkeit Dutschkes prägten und zerrissen. Sie tut es mit Einfühlungsvermögen und kritischer Distanz, die sowohl Erlebtes als auch Gedachtes auf den Prüfstand kritischer Analyse stellt, ohne die damaligen Intentionen zu negieren.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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