Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Mit Recht viele Fragezeichen gesetzt

Edgar Bauer: Die unberechenbare Weltmacht.
China nach Deng Xiaoping
Ullstein Verlag, Berlin 1995, 424 S.

Der Verfasser, Jahrgang 1951, ist sachkundig. Er hat Sinologie sowie Ökonomie und Politik studiert, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Südostasien, hat dann seine Kenntnisse dort erweitert und für die Deutsche Presse-Agentur rund sechs Jahre in Peking gearbeitet, was zweifellos seine wichtigste Grundlage für dieses Buch wurde. 1990 hat er als seinen Sachbuch-Erstling Die Erben der Roten Mandarine über die Studentenproteste von 1989 vorgelegt. Wer sich über das Reich der Mitte auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert informieren möchte, kommt an Edgar Bauers differenzierten Mutmaßungen über China nach Deng Xiaoping nicht vorbei. Sie sind auch 1997 durchaus aktuell.

Um Mutmaßungen handelt es sich in einem ganz seriösen Sinne: Einerseits sind die Antworten auf viele Fragen zur Entwicklung des volkreichsten Landes der Erde im nächsten halben Jahrzehnt noch offen, von einem längeren Zeitraum ganz zu schweigen. Es wäre daher vermessen, uneingeschränkte oder gar apodiktische Voraussagen zu treffen. Ein „So und nicht anders“ verbietet sich bei diesem einzigartigen Land absolut. Insbesondere deshalb, wie Bauer richtig erkennen läßt, weil Gesellschaft und Wirtschaft der Volksrepublik China sich alles andere als statisch verhalten. Dort gärt, so darf man als notwendige Ergänzung feststellen, mehr ökonomischer und politischer Sauerteig als in jedem anderen Land einschließlich Rußland (wo es davon eher zu wenig geben könnte). In dem Buch sind also mit Recht viele Fragezeichen gesetzt. Andererseits erlaubt eine Reihe von Grundtatsachen, mögliche Trends für die ausschlaggebenden Bereiche abzuleiten.

Bauers zurückhaltende Schlußfolgerung: „Ein mit sich selbst mühsam ums Überleben und um Fortschritt ringendes China ist eine weit realistischere Aussicht als eine politisch und gesellschaftlich geeinte Supermacht, die mit immer neuen Wirtschaftswundern und überragender militärischer Stärke die übrige Welt herausfordern oder gar ein ‚chinesisches Zeitalter‘ der Weltgeschichte einläuten könnte.“ Diese Prognose zeigt, was der Autor an anderer Stelle ebenfalls betont: China ist kein Land der Expansion, genauer gesagt der territorialen Expansion. Auf einem anderen Blatt stehen die fortschreitenden Ansiedlungen von Chinesen vor allem im pazifischen Raum und eine finanzielle Expansion. Auch hier muß man wiederum sagen „von Chinesen“, was wesentlich mehr besagt als ihre Staatszugehörigkeit. Die finanzielle „Landnahme“ - staatliche, halbstaatliche und private - ist viel weniger medial sichtbar als die von Unkundigen als Verschuldung aufgebauschte Kreditaufnahme der Volksrepublik (diese ist ein so solventer Kreditnehmer, daß man heute sagen kann, die Chinesen zahlen wie einst die Russen). Dem Buch darf das Fehlen dieses Themas nicht angekreidet werden, soweit es um eine gründliche Darstellung geht. Sie würde den von Bauer ohnehin relativ weit gesteckten Rahmen sprengen, handelt es sich doch um ein weites Geflecht von Tatsachen des Kapitalexports, der Kreditvergabe, des Ausbaus von Gläubigerpositionen. Sie werden sowohl durch China geschaffen als auch durch Taiwan - von China als zugehörige Provinz angesehen - und nicht zuletzt durch reiche Auslandschinesen, die sich dem Mutterland trotz dessen politischer Struktur verbunden fühlen. Da aber für das China nach Deng ebendieses finanzielle Pilzgeflecht eine erhebliche Rolle spielen wird, auch und speziell im Zusammenhang mit der Rückkehr des erstrangigen Finanzplatzes Hongkong, hätte man sich eine weitergehende Behandlung gewünscht. Was - in den Fakten durchaus zutreffend - im ersten der acht Kapitel unter dem Stichwort „Groß-China“ mitgeteilt wird, sind eben nicht „nur Reißbrett-Zahlen und Visionen“, sondern bereits wirkende Faktoren; die politische Einheit Chinas ist auch morgen keine conditio sine qua non, und das Beispiel Deutschland dürfte weder übertragbar sein noch besonders ermutigend wirken.

Bauer hat, im ganzen gesehen, das unbestreitbare Verdienst, einseitigen und vereinfachten Betrachtungen entgegenzutreten. „Für Politiker und Geschäftsleute ist China vor allem deshalb wieder attraktiv, weil es aus ihrem Blickwinkel wirtschaftlich derzeit auf dem Erdball keine größere Erfolgsstory gibt.“ Mit dieser kritisch akzentuierten Bemerkung ermöglicht der Autor, nicht nur das lechzende Interesse deutscher Konzerne am chinesischen Markt richtig einzuordnen, sondern auch die hilfreichen Aktivitäten des Bundeskanzlers und seines Außenministers, ihre Haltung gegenüber der chinesischen Regierung und zu Menschenrechtsfragen.

Zugleich warnt Bauer vor Fehleinschätzungen, die es in den westlichen Ländern bereits zu Zeiten der Kulturrevolution gegeben habe. „Eine Flut von Büchern und Artikeln lenkte den Blick auf falsche Spuren und weit an der Wirklichkeit vorbei.“ Heute, so betont er, „scheint ein neuer Fehlschluß in der Vorstellung zu bestehen, daß durch angeblich demokratische Triebkräfte der Weg zur Demokratie auch für China vorgezeichnet sei. Diese Erwartung wird im Westen noch unterstützt durch eine anhaltende Überschätzung der Rolle der Dissidenten.“ China „kann weder mit Osteuropa noch mit einem Europa auf einer früheren Entwicklungsstufe verglichen werden“, sein künftiger Weg „ist offener und unbestimmter, als dies durch solch unlineares und eurozentrisches Denken suggeriert wird“, eine Demokratie „kann für China nicht am westlichen Reißbrett entworfen werden“. Ob eine Demokratie etwa nach US-Muster den Chinesen überhaupt wünschenswert sein könnte, gehört gar nicht erst zum Kreis der Fragen, die der Autor stellt. Wenn Bauer aber über China schreibt, „Die Gewinnmaximierung wird zum Teil in skrupelloser Manier auf Kosten der Arbeiter betrieben, die in der Regel nicht einmal eine gewerkschaftliche Vertretung für ihre Interessen einspannen können“, so fragt man sich doch, ob dies nicht im Prinzip auch für die USA gilt und morgen für die Bundesrepublik gelten könnte, falls die Unternehmerverbände ihre Vorstellungen durchsetzen. Und wenn Bauer über China schreibt „Abschied vom Protest: Karrieredenken bei Studenten“, so trifft dies wohl für ein Deutschland nach 1968 ebenfalls zu.

Zu den Schwächen gehört eine Reihe widersprüchlicher Aussagen, die nicht eingegrenzt oder relativiert sind. So gibt es laut Buchtext fast dreißig Millionen Bauern, die nach offiziellen Angaben „nicht genug zu essen haben“. (Eine Quelle für diese Information fehlt, obwohl ansonsten fast jede relevante Aussage der chinesischen Seite dokumentiert ist.) Durchaus anderslautend diese Feststellung: „Heute kann auch das einfache Volk es genießen, bei Essen und Kleidung wählerischer zu sein und auch für das Freizeitvergnügen etwas übrig zu haben.“ Ein weiteres Beispiel: Es wird mitgeteilt, „rund siebzig Prozent, das sind die Bauern mit niedrigem Einkommen, wollen wieder zurück in die Kollektivwirtschaft“, dagegen, wie es an anderer Stelle heißt, „fürchten Chinas Bauern in der Mehrzahl eine Rückkehr zu den alten Kollektivformen“.

In dem Zusammenhang ist auch zu fragen, warum in dem Buch eine Anerkennung der größten Leistung Chinas umgangen wird, nämlich die Lösung des Ernährungsproblems. Es erscheint etwas dürftig, wenn der Autor lediglich feststellt, mit nur rund sieben Prozent der gesamten Weltanbaufläche „muß“ China mehr als zwanzig Prozent der Menschheit ernähren (und im übrigen künftige Ernährungsprobleme voraussagt). Immerhin räumt Bauer ein, daß - in Dürregebieten etwa und nach Naturkatastrophen - Millionen Menschen „nur deshalb“ überlebten, „weil ihnen der Staat Nahrungsmittel und Kleidung zur Verfügung stellte“. Tut dies „der Staat“ nicht überall - wenn er es kann? Und, so darf man weiter fragen, was hat die UNO, was haben Europa, Nordamerika und Australien getan, um den Hunger in Afrika in gleicher Weise zu besiegen, wie es „dem Staat“ in China gelungen ist?

Anmerkungen solcher Art sind nicht gedacht, den Wert dieses faktenreichen und anregenden Buches zu schmälern. Seinem Autor muß es auch freistehen, dem faszinierenden, fröhlichen, neugierigen, innovativen, leistungsfähigen China weniger mit Sympathie und mehr mit der Häufung kritisch bewerteter Fakten zu begegnen (womit er die positiven Seiten und Möglichkeiten des von ihm beobachteten Gärungsprozesses unterschätzt). Was vor allem zählt: Zugleich mit vielen Einblicken in Chinas Gesellschaft einschließlich des „Who is who?“ eröffnet Bauer Möglichkeiten des Weiterdenkens. Das „bestehende Gefüge“, stellt er fast gönnerhaft fest, habe „immerhin eine in der jüngeren Geschichte des Landes beispiellose Stabilität über fast zwei Jahrzehnte und dazu einen wirtschaftlichen Aufschwung besorgt“. Beispielsweise bietet sich an, über Möglichkeiten nachzudenken, die Bauer wohlweislich vorsichtig formuliert: „Erstmals könnte auch unter Führung einer Kommunistischen Partei der Abschied von einer zentralisierten Planwirtschaft gelingen, ohne daß ein politischer Strukturwandel erfolgt.“ Hierzu widerum sollte eine ebenso banale wie weise Anmerkung des Autors beachtet werden: „China ist eine komplexe Welt für sich und funktioniert nach eigenem Muster.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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