Eine Rezension von Klaus Ziermann

„Gewinnen ist schön“

Egon Bahr: Zu meiner Zeit
Karl Blessing Verlag, München 1996, 605 S.

Schon der Anfang des Buchs ist gekonnt und verleitet sofort zum Weiterlesen: Die Kindheit zuerst in der thüringischen Werra-Gemeinde Treffurt, die später so nahe an der innerdeutschen Grenze lag, daß selbst ein Egon Bahr seinen Geburtsort zu DDR-Zeiten nur mit Sondergenehmigung - einem Geschenk von Politbüro-Mitglied Hermann Axen - besuchen konnte. Danach zehn Kinder- und Jugendjahre im sächsischen Torgau - der Stadt, in der Martin Luther die erste evangelische Kirche einweihte und sich 1945 amerikanische und sowjetische Truppen auf der Elbbrücke zum endgültigen Sieg über den Hitlerfaschismus die Hände reichten: Der heranwachsende Junge wurde ein begeisterter Sänger im Chor der Schloßkirche und durfte sogar „Soli in strahlend hellem Sopran schmettern“: „Noch heute kann ich Passagen aus der Missa solemnis auswendig“, versichert ein stolzer Memoiren-Schreiber, „allerdings nur im Sopran, der langsam über Alt und Tenor in den Baß rutschte, ohne Stimmbruch.“ (S. 17) Egon Bahr, als einer der Architekten der „neuen Ostpolitik“ an der Seite Willy Brandts in die Geschichte eingegangen, versteht von allen seinen Lebens- und politischen Karrieresituationen spannend zu erzählen. Die Worte sind bewußt gewählt, die Sprache setzt Pointen, wirkt zuweilen wie Belletristik, denn welcher andere Politiker würde schon von „Vermählung zweier Flüsse“ und nicht einfach vom Zusammenfluß schreiben.

Persönliche Stimmungen werden in Egon Bahrs Erinnerungen - Gott sei Dank! - niemals völlig verdrängt, auch wenn sich der Autor im Eingangssatz seines Vorworts als „eine Quelle“ bezeichnet, und die Darstellung zeitgeschichtlicher Ereignisse auf größte Objektivität zielt. Ein erster Höhepunkt gelingt ihm mit der Beschreibung der Berliner Verhältnisse nach dem Kriegsende: von den Anfängen in der „Berliner Zeitung“, später in der „Allgemeinen Zeitung“. Was Egon Bahr über die politische Grundstimmung in der zweiten Hälfte des Jahres 1945, die in der Öffentlichkeit weit verbreitete „Sache mit dem Sozialismus“, über die Rivalität zwischen Otto Grotewohl und Kurt Schumacher, die neu entstandene Parteienlandschaft und die Wahlergebnisse zu berichten weiß, sollte nicht allein Profis der Geschichtsaufarbeitung interessieren.

Das Buch Zu meiner Zeit hat viele Vorzüge. Einer der auffälligsten: die große Spannbreite und Dimension politischer Entwicklungen in Deutschland und Europa, die Egon Bahr zuerst in den Funktionen des RIAS-Chefredakteurs und Senatsprechers, vor allem aber als Sonderbotschafter und Leiter des Planungsstabes unter Willy Brandt im Auswärtigen Amt, als Staatssekretär und Bundesminister für besondere Aufgaben der SPD/FDP-Koalition im Bundeskanzleramt, als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Regierung Helmut Schmidts, als Bundesgeschäftsführer und Präsidiumsmitglied der SPD, Vorsitzender des Abrüstungsausschusses im Deutschen Bundestag, zuletzt als Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik miterlebt und mitgestaltet hat. Höhepunkte setzten zweifellos die Verhandlungen über den Moskauer Vertrag, das Viermächteabkommen über Berlin, der Vertrag mit Polen, der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR - die sichtbarsten Ergebnisse der „neuen Ostpolitik“.

Es gehörte zur zeitgeschichtlichen Dimension, in der sich Egon Bahr seit den fünfziger Jahren bewegte, daß er Umgang mit vielen erstrangigen Politikern hatte, die zwischen 1945 und 1995 Weltpolitik und Weltgeschichte schrieben: Konrad Adenauer, Leonid Breschnew, Nikita Chruschtschow, Michail Gorbatschow, John F. Kennedy, Henry Kissinger, François Mitterrand, Olof Palme, Margaret Thatcher - wer wollte sie alle aufzählen? Egon Bahr - gelernter Publizist von der Pike auf - besitzt das Beobachtungs- und Schreibtalent, aus seinen persönlichen Erlebnissen mit dieser politischen Prominenz von Welt bildhafte, eingehende Porträts zu formen. Das von Wehner ist eines der psychologisch stärksten. Das Grunderlebnis Willy Brandt überstrahlt jedoch alles. „Die inneren Ansichten der Macht zeigen, daß jeder Regierungschef in jedem Land Mitarbeiter braucht, die mehr sind als Untergebene“, steht auf Seite 122. Egon Bahr war einer, der sich in dieser Rolle neben und zusammen mit Willy Brandt offenbar sehr wohl fühlte, sie als Herausforderung annahm und - darin besteht seine Größe - erfolgreich bewältigte.

An vielen Stellen versteht es Egon Bahr eindrucksvoll zu schildern, wie große Politik konzipiert, in Gang gebracht und durchgesetzt wird. Politik korrumpiere, ist an einer Stelle zu lesen. Beispiele dafür und auch Drahtzieher von Politik, die im Hintergrund ihr Gewerbe betreiben, findet der Leser in dem Buch Zu meiner Zeit zur Genüge. Und auch Egon Bahrs Aktivitäten bestätigen - auf den Punkt gebracht - letztlich eines: In der Politik geht es stets darum, eigene Interessen so gut wie möglich durchzusetzen - auf Kosten der anderen Seite.

„Gewinnen ist schön“, lautet nicht zufällig einer der Kernsätze des Buches. Er steht in der Passage über den SPD-Wahlsieg 1972: „Der Abend im Kanzlerbungalow ist überwältigend. Mit 45,8 Prozent liegen wir fast ein Prozent vor der Union, die Zahl der direkt errungenen Stimmen ist noch höher. Schleswig-Holstein hat den größten Sprung noch oben gemacht. Günter Grass behauptet, mich küssen zu müssen, und tut es. Willys Umarmung schmerzt fast. Henry ruft aus Paris an und beginnt, mich zu duzen. Honecker telefoniert zum ersten mal mit einem Bundeskanzler und läßt grüßen.“ (S. 426) Willy Brandt und Egon Bahr blieben in der Stunde größter Freude jedoch realistisch genug, den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren: „Nur jetzt nicht triumphieren; hoffentlich können wir die Erwartungen befriedigen - das war die gesunde Grundhaltung Brandts nach seinem Triumph.“ (S. 426)

Die Geschichte hat Egon Bahr in den folgenden Jahren keineswegs nur siegen sehen. Vielleicht war das der Grund, daß er sich zu einem speziellen Kapitel „Sozialdemokratismus“ veranlaßt sah. Es beginnt: „In den fünfziger Jahren konnte sich der Kommunismus als eine Kraft fühlen, der die Zukunft gehört ...“ (S. 547), enthält anregendes Nachdenken über den Untergang des sozialistischen Weltsystems und den Zusammenbruch der Sowjetunion, über Gorbatschows Äußerung „Ich bin Sozialdemokrat“ (S. 556), interessante Einschätzungen über Reformer in Osteuropa und eine für die gegenwärtige regierungsoffizielle politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland überraschende PDS-Einschätzung, die in dem Bonmot gipfelt: „Hinter Gysi stehen nicht mehr Ulbricht und Stalin, hinter Bisky nicht mehr Honecker und Breschnew.“ (S. 562) Die Hauptfrage jedoch, die Egon Bahr am Schluß des Kapitels eher aufwirft als abhandelt - „was sich die SPD in dem neuen Zeitalter zum Beispiel unter dem demokratischen Sozialismus ihres Programms vorstellt“ (S. 562) -, bleibt offen, und das ist nicht einmal dem Schreiber der Erinnerungen anzukreiden.

Ist das große Lebenswerk des Egon Bahr in Erfüllung gegangen, möchte man fragen, wenn man den strategischen Mitarchitekten der „neuen Ostpolitik“ auf den letzten Seiten seines Buches in der Rolle eines Beraters von DDR-Verteidigungsminister Eppelmann bei der Übergabe der NVA an die Bundeswehr wiederfindet und liest: „Am letzten Tag verweigerte die westdeutsche Seite der ostdeutschen den symbolischen Akt der Würde, die alte Flagge einzuholen, die neue zu hissen ... Die Rede des alten Ministers anläßlich der Übergabe der NVA vergaß man zu drucken ... Um psychologische Verletzungen zu vermeiden, verkleideten sich die hohen Offiziere aus Bonn, die zum Akt der Übergabe Minister Stoltenberg begleiteten, in Kampfanzüge, in denen sich die meisten noch nicht gesehen hatten, was sie recht komisch fanden ... Dann gab's Sekt.

Ich räumte den Schreibtisch, gab die Schlüssel ab und fuhr nach Berlin, etwas vergrübelt, ob wir wohl die Kraft aufbringen würden, Fehler zu vermeiden oder zu korrigieren, die sich nicht durch die Hinterlassenschaften des SED-Regimes entschuldigen lassen.“ (S. 592) Egon Bahr - ein Mann, der den langen Weg der Erkenntnis vom einstigen Kalten Krieger zu einem geistigen Vorreiter der Entspannungspolitik in Europa gegangen war - hat sich mit ausgeprägtem Sinn für Zeitkolorit auch hier, im letzten Absatz seines Buches, als Vordenker erwiesen: Die Probleme, die er sah und die sich nicht „durch die Hinterlassenschaften des SED-Regimes entschuldigen lassen“, kamen nach der deutschen Einheit schneller als gedacht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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