Wiedergelesen von Helmut Fickelscherer

Günter de Bruyn: Buridans Esel

Mitteldeutscher Verlag, Halle 1967, 247 S.

Dem im 14. Jahrhundert wirkenden französischen Philosophen Buridan wird jene Geschichte zugeschrieben, in der ein Esel, der vor zwei in Quantität und Qualität völlig gleichen Heuhaufen steht, verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst auffressen soll. Manche Lexika nennen für dieses Denkspiel auch andere Quellen, und böse Zungen behaupten sogar, man habe dem wackeren Buridan die Story angehängt, um seine Scholastik zu verspotten, deshalb der Esel ...

Wie dem auch sei, aufschlußreich ist es schon, wie sich beispielsweise unter DDR-Verhältnissen jemand verhält, der eine Entscheidung treffen muß zwischen zwei Möglichkeiten, die - jede für sich - durchaus akzeptabel sind, aber doch recht unterschiedlich für die persönliche Weiterentwicklung. Nun forderte der Alltag in der DDR dem Bürger nur wenige Entscheidungen ab, vieles wurde für ihn entschieden. Der realexistierende Sozialismus war keine Gesellschaft der Entscheidungsfreudigen. Auch de Bruyns Protagonisten, dem Bibliotheksleiter Karl Erp, wurden bisher keine großen Entschlüsse abverlangt, ziemlich geradlinig war sein Werdegang. Er steht einer kleinen, aber leistungsfähigen Berliner Bibliothek vor, seine Kollegen achten ihn und schätzen sein umfangreiches Allgemein- und Fachwissen. Er ist verheiratet, hat zwei wohlgeratene Kinder, Junge und Mädchen, die Familie besitzt sogar ein Einfamilienhaus mit Garten am Stadtrand, das die Schwiegereltern hinterlassen haben, als sie nach Westberlin zogen, um dort ihr Rentnerdasein zu führen. Ein weiteres Besitztum, ein Wassergrundstück mit Boot, wurde gegen einen Pkw Trabant vertauscht, nicht nur Mitte der sechziger Jahre ein technisches Objekt der Begierde. Karl Erp ist also „endversorgt“ und weiß das auch zu schätzen, er ist ein ernsthafter Mensch mit einem pädagogisch-didaktischen Impetus, den seine sanfte Frau Elisabeth klaglos und nicht unwillig erträgt.

Alles geht also seinen Gang, und deshalb ist Erp völlig überfordert, als er gleichsam über Nacht in eine Situation gerät, die ihn als Mann und Vater, als Mensch und Leiter zu Entscheidungen zwingt. Es beginnt damit - und das ist selten genug -, daß er beim morgendlichen Erwachen lächelt, und er weiß nicht, warum. Dann bringt er dieses Lächeln mit Fräulein Broder in Verbindung. Fräulein Broder - ihr Vorname wird im gesamten Text nicht verraten - ist Praktikantin in der Bibliothek, ein kluges, etwas sprödes Mädchen von kühler Schönheit. Und Erp hat sich in Fräulein Broder verliebt. Er versucht dieses Gefühl zu verdrängen, aber das gelingt nicht. Es folgt die übliche Sache mit Ausreden zu Hause, angeblichen Dienstbesprechungen bis in die Nacht; die Kollegen haben natürlich auch längst etwas gemerkt, manche werfen Erp vor, er habe Fräulein Broder bei der Vergabe der einzigen freien Planstelle in der Bibliothek gegenüber dem anderen Praktikanten bevorzugt. Er gerät immer tiefer in den Strudel seiner Leidenschaft, schreibt Briefe an die Geliebte, besucht sie in ihrer Hinterhofwohnung, obwohl sie ihn nicht dazu ermuntert. Und er erzählt, aus seinem „Bedürfnis nach Ehrlichkeit“ heraus, seiner Frau von den Gefühlen für Fräulein Broder, die ihn zunehmend hilflos machen. Gerade diese Hilflosigkeit, die ihn Chefgehabe, Machoallüren und Unfehlbarkeitsanspruch ablegen läßt, nimmt Fräulein Broder für ihn ein. Unter seiner Maske ist er ein sensibler, verletzlicher Mensch, den sie liebgewinnt.

Bezeichnenderweise kulminiert das Geschehen zu Weihnachten. Besuch der Schwiegereltern aus Westberlin und sentimentaler Festtagserwartungsdruck treiben Karl Erp aus dem Haus und hin zu Fräulein Broder, die Weihnachten allein gewesen wäre. Die nun folgende Liebesszene gehört zu den gelungensten der DDR-Literatur: „Da liebten sich zwei mit Herz und Verstand ...“

Und de Bruyn entwirft ein Bild, wie es weitergehen könnte mit den beiden, was in folgendem gipfelt: „... das Paar bezieht eine Neubauwohnung (zweieinhalb Zimmer, Küche, Bad, Fernheizung) in der Karl-Marx-Allee, wo es heute noch lebt, glücklich, aber nie selbstzufrieden.“ Dann aber wendet er sich als Moralist von den „Happy-End-süchtigen Lesern“ ab und den „Wirklichkeitsfanatikern, Tatsachenhungrigen, Illusionsfeinden“ zu, denen er die restlichen Kapitel ausdrücklich widmet.

Gleich nach dem Fest packt Karl Erp seine Koffer und zieht zu Fräulein Broder in die Hinterhaus-Einzimmerwohnung - Ofenheizung, marode Wasserleitung, Außentoilette für alle Mietparteien im zweiten Stock ... Tapfer kämpft er gegen die Widrigkeiten des ungewohnten Domizils, reiht sich ein in die Schar der Wartenden auf dem Wohnungsamt, sucht nach einer neuen Arbeitsstelle, denn es geht nicht an, daß Fräulein Broder und er weiterhin in derselben Bibliothek tätig sind.

Noch hält die Liebe der beiden der Alltagsbelastung stand. Sie träumen von einem gemeinsamen Neubeginn in einer ländlichen Bibliothek, wobei Fräulein Broder gar nicht auf die Idee kommt, daß es für ihn nur Träume sind, daß er solch einem radikalen Bruch mit seiner verdienstvollen Vergangenheit gar nicht standhalten würde; seine Sturm- und Drangzeit ist längst vorüber und nicht rückholbar. Gerade als er ins Ministerium berufen wird, hat sie - ohne sein Wissen - in der Bibliothek gekündigt und, auf die gemeinsamen Pläne vertrauend, Stellen für sie beide in Angermünde gefunden ... Es kommt, wie es kommen muß: Sie fährt allein nach Angermünde, und er kehrt - eigentlich ganz folgerichtig - zu Frau und Kindern zurück.

„Hast du schon gegessen?“ fragt Frau Elisabeth Erp den Heimgekehrten und widerlegt damit die Buridansche Scholastik. Scheinbar kann alles so weitergehen wie gehabt, aber eben nur scheinbar, denn Frau Erp hat sich unterdessen um eine anspruchsvolle Arbeit bemüht, ist dabei, sich zu emanzipieren, und es steht zu erwarten, daß sie ihrem Mann in Zukunft zeigt, wo sich sein Heubündel befindet. Erps Ausbruchversuch aus festgelegten Bahnen, aus unschöpferischer Bequemlichkeit ist gescheitert, und die Rückkehr zur Familie ist kein moralischer Sieg. „Es gibt eine Art moralischen Handelns, bei der die Moral in die Binsen geht!“

Günter de Bruyn bezeichnet seinen Roman als einen Liebes-, Frauen-, Ehe-, Moral-, Bibliothekars-, Sitten-, Gegenwarts-, Gesellschafts-, Berlin-Bericht“. Und die große Beliebtheit des Romans - er wurde auch, unter dem Titel „Glück im Hinterhaus“, erfolgreich verfilmt - resultierte wohl auch aus der genauen, nicht unkritischen Beschreibung der DDR-Wirklichkeit, zu einer Zeit, in der das 11. Plenum (1965) den Schriftstellern und Filmemachern gezeigt hatte, nicht wo das Heubündel, sondern wo der Hammer hängt. De Bruyn schildert die DDR-Gesellschaft als stabil, man hat sich eingerichtet, die Leute „verkriechen“ sich „nach der Arbeit in ihre Wohnungen ..., um sich durchs Fernsehen weltweite Kontakte vorzaubern zu lassen“. Gesprächsthemen jener Zeit immerhin u. a.: „... Christa Wolf, Kulturpolitik, Enzensbergers Katechismus, Reiner Kunzes Lyrik, die Deutschen, die Preußen, die Mauer, ... die Atombombe, ... Kleingärtner und DEFA-Filme und Bundeswehr“, auch Hinweise auf den Vietnam-Krieg.

Natürlich mischt man sich ein in die Eheprobleme der Familie Erp und in die Liebesbeziehung zwischen Fräulein Broder und Karl, aber es geschieht behutsam, nicht wie in Büchern aus den Vorjahren mit Verdikten. „Wenn es stimmt, daß Größe durch Widerstände entsteht, wäre unsere verständige Gesellschaft kein Boden für große Liebesgeschichten.“ Verständig sein, Einsicht in die Notwendigkeit, keine großen Entwürfe, sondern Kampf mit dem tropfenden Wasserhahn im Hinterhaus - es hat alles seine Ordnung in der geschlossenen Gesellschaft.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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